Tolle Bösewichte
Der Fiese ist oft interessanter als der Gute. Eine Ausstellung zeigt, warum das so ist
Was wäre die Literatur ohne Bösewichte? Ziemlich langweilig, das ist klar. „Die Schatzinsel“ohne Long John Silver, „Der Zauberer von Oz“ohne die Hexe des Westens, „Harry Potter“ohne Lord Voldemort – Tiefe und Spannung einer Geschichte beruhen oft darauf, dass der
Held einen Gegenspieler hat. Und nicht zuletzt braucht ja das Gute das Böse, um wirklich gut zu sein.
Dabei fasziniert uns das Teuflische und Fiese meist weit mehr als das Wahre und Schöne, weil es uns den wohligen Schauder über den Rücken laufen lässt, schillernder und interessanter ist und wir uns abgrenzen können. „Geschichten mit Schurken liest man gern, denn sie sind keine gerade Autobahn“, sagt Sibylle Weingart.
Für die Ausstellung „Schurken, Hexen, üble Gestalten“in der Internationalen Jugendbibliothek in der Blutenburg in München hat sich Weingart mit den üblen Gestalten in der internationalen Kinder- und Jugendliteratur beschäftigt und weiß: „Die Dualität von Held und Gegenspieler regt uns zum Nachdenken an, denn die Frage, wie handelt einer – gut oder böse –, beruht ja immer auf einer Entscheidung.“Und die könne so oder so ausfallen. Gerade für junge Leser gebe es noch einen zusätzlichen Reiz: „Die Schurken machen etwas, was ich nicht darf, die gehen über Grenzen.“
So begegnet man in der Ausstellung auf dem Weg ins Dachstübchen der Blutenburg einigen Figuren, die Kindern das Gruseln lehren: dem Geizhals Ebenezer Scrooge aus Dickens’ „Weihnachtsgeschichte“, der seine Leute sogar am Weihnachtsabend arbeiten lässt; Napoleon, der in der „Farm der Tiere“alle tyrannisiert; der Schneekönigin, deren Kuss töten kann; der Hexe Baba Jaga, die in osteuropäischen Märchen und Sagen ihr Unwesen treibt.
Dabei können die Mechanismen des Bösen auf vielfältige Weise an den Tag treten: In Erich Kästners „Emil und die Detektive“ist es die Schokolade, mit der der diebische Herr Grundeis Emil in Sicherheit wiegt; Michael Ende umgibt seine grauen Herren, die Zeitdiebe, in „Momo“mit Zigarrenrauch und im Märchen „Dornröschen“bringt die Spindel der 13. Fee das Unheil.
Nicht immer lassen sich gut und böse eindeutig unterscheiden, manches ist ambivalent wie die drei Räuber
von Tomi Ungerer, die sich durch die Begegnung mit einem kleinen Mädchen zu richtigen Wohltätern entwickeln. Auch die schreckliche Frau Mahlzahn aus Endes „Jim Knopf“verwandelt sich bekanntlich in den Goldenen Drachen der Weisheit.
Bewahren muss man Kinder nicht vor dem Bösen zwischen den Buchdeckeln. Sowieso wüssten Kinder aus dem eigenen Erleben oder der Umwelt meist mehr über das Böse, als ihren Eltern lieb ist. „Man unterschätzt die Kinder in ihrer Fähigkeit, Distanz herzustellen“, meint die Literaturwissenschaftlerin Weingart. Schließlich wüssten sie, dass es eine Geschichte ist, „und wenn es ihnen zu viel wird, können sie einfach zuklappen.“
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Ausstellung „Schurken, Hexen, üble Gestalten. Bösewichte in der interna tionalen Jugendliteratur; bis 30. April 2022 in der Blutenburg in München; Mo.–Do. 10–12.30 Uhr / 13.15–16 Uhr, Fr. 10–12.30 Uhr /13.15–14 Uhr, Samstag und Sonntag 14–17 Uhr