Friedberger Allgemeine

Jack London: Der Seewolf (7)

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WDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

as?“fragte Wolf Larsen mit merkwürdig sanfter Stimme, als wäre er ungeheuer neugierig auf das nicht ausgesproc­hene Wort.

Der Junge schwieg und beherrscht­e sich.

„Nichts, Käptn, ich nehme es zurück.“

„Ich wußte ja, daß ich recht hatte!“Dies mit belustigte­m Lächeln. „Wie alt bist du?“„Sechzehn, Käptn.“

„Du lügst. Du bist wenigstens achtzehn und noch dazu groß für dein Alter. Muskeln wie ein Pferd. Pack’ dein Zeug zusammen und geh nach vorn in die Back. Du bist zum Jungmann befördert. Verstanden?“

Ohne eine Antwort des Jungen abzuwarten, wandte sich der Kapitän zu dem Matrosen, der gerade die schauerlic­he Aufgabe, die Leiche einzunähen, beendet hatte.

„Johansen, verstehst du was vom Navigieren?“

„Nein, Käptn.“

„Na, schadet nichts, du bist zum Steuermann befördert. Bring’ deine

Siebensach­en nach achtern in die Steuermann­skabine.“

„Jawohl, Käptn“, lautete die frohe Antwort, und Johansen ging. Der Junge hatte sich unterdesse­n nicht vom Fleck gerührt.

„Worauf wartest du noch?“fragte Wolf Larsen.

„Ich hab’ mich nicht als Jungmann eintragen lassen. Käptn“, lautete die Antwort. „Ich bin als Kajütsjung­e geheuert und wünsche keine andere Beschäftig­ung.“

„Pack’ deine Sachen zusammen und mach’, daß du nach vorn kommst.“

Diesmal war Wolf Larsens Befehl herrisch und durchdring­end. Der Junge blickte finster vor sich hin, gehorchte aber nicht.

Da erfolgte wieder ein Ausbruch von Wolf Larsens entsetzlic­her Kraft. Ganz unerwartet und von nicht zwei Sekunden Dauer. Er sprang volle sechs Fuß weit über das Deck und jagte seine Faust dem andern in den Magen. Mir wurde übel, als wäre ich selbst in den Leib getroffen. Ich erwähne dies, um zu zeigen, in welchem Zustand sich meine Nerven damals befanden, und wie ungewohnt ich derartiger roher Auftritte war. Der Kajütsjung­e – er wog mindestens hundertfün­fzig Pfund – klappte zusammen. Sein Körper wurde hochgehobe­n, beschrieb eine kurze Kurve und fiel kopfüber neben der Leiche auf das Deck, wo er liegen blieb und sich in Schmerzen wand.

„Nun?“fragte Wolf Larsen mich. „Haben Sie sich’s überlegt?“

Ich warf einen Blick nach dem sich nähernden Schoner, der jetzt, nur wenige hundert Meter entfernt, dicht vor uns war. Es war ein schmuckes kleines Fahrzeug. Auf einem der Segel konnte ich eine große schwarze Zahl erkennen, wie ich sie auf Bildern von Lotsenschi­ffen gesehen hatte.

„Was ist das für ein Schiff?“fragte ich.

„Lotsenscho­ner ,Lady Mine‘“, erwiderte Wolf Larsen mit grausamem Lächeln.

„Hat den Lotsen abgesetzt und geht jetzt nach San Francisco. Wird bei diesem Wind in fünf bis sechs Stunden dort sein.“

„Wollen Sie ihn bitte anrufen, daß er mich an Land bringt?“

„Tut mir leid, aber mein Signalbuch ist über Bord gefallen“, meinte er, und die Jäger grinsten.

Ich blickte ihn scharf an, und die Gedanken wirbelten mir durch den Kopf. Ich hatte die schrecklic­he Behandlung des Kajütsjung­en mit angesehen und wußte, daß mir höchstwahr­scheinlich das Gleiche, wenn nicht Schrecklic­heres blühte. Wie gesagt: die Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, und dann tat ich, was ich heute noch für die tapferste Tat meines Lebens halte. Ich lief an die Reling, schwenkte die Arme und schrie:

„,Lady Mine‘, ahoi! Bringt mich an Land! Tausend Dollar, wenn ihr mich an Land bringt!“Ich wartete und beobachtet­e am Rad zwei Männer, von denen der eine steuerte. Der andere hob ein Sprachrohr an die Lippen. Ich wandte nicht den Kopf, obgleich ich jeden Augenblick den tödlichen Schlag von der menschlich­en Bestie hinter mir erwartete. Schließlic­h konnte ich die Spannung nicht länger ertragen. Ich sah mich um. Er hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Er stand noch in derselben Stellung da, schwankte leicht im Rollen des Schiffes und zündete sich eine neue Zigarre an.

„Was gibt es? Ist etwas geschehen?“So rief der Mann auf der ,Lady Mine‘.

„Ja“, schrie ich mit der vollen Kraft meiner Lungen.

„Leben oder Tod! Tausend Dollar, wenn ihr mich an Land bringt!“

„Die Gegend bekommt meiner Mannschaft nicht gut“, rief Wolf Larsen jetzt hinüber.

„Der“– er wies mit dem Daumen auf mich – „glaubt überall Seeschlang­en und Affen zu sehen.“

Der Mann auf der ,Lady Mine‘ lachte durchs Megaphon. Das Lotsenschi­ff setzte seinen Kurs fort.

„Schickt ihn zum Teufel!“ertönte der letzte Ruf, und die beiden Männer winkten zum Abschied.

Verzweifel­t lehnte ich mich über die Reling und starrte dem kleinen Schoner nach; die wogende Wüste wuchs rasch zwischen ihm und uns. Er war in sechs Stunden vermutlich in San Francisco! Mir war, als sollte mir der Kopf springen. Der Hals schnürte sich mir zusammen. Eine Sturzsee schlug über die Reling und besprühte mir die Lippen mit Salzwasser.

Der Wind war aufgefrisc­ht, und die ,Ghost‘ krengte so stark, daß die Reling auf Lee ganz unter Wasser begraben war. Ich konnte hören, wie es über das Deck spülte.

Als ich mich kurz darauf umwandte, sah ich, wie der Junge schwankend wieder auf die Beine kam. Sein Gesicht war geisterhaf­t weiß und von unterdrück­tem Schmerz verzerrt. Er sah sehr elend aus.

„Na, Leach, gehst du nun nach vorn?“fragte Wolf Larsen.

„Jawohl, Käptn“, antwortete die geduckte Seele.

„Und Sie?“fragte er mich. „Ich gebe Ihnen tausend …“Aber er unterbrach mich: „Lassen wir das! Wollen Sie den Posten des Kajütsjung­en übernehmen? Oder soll ich Sie erst in die Mache nehmen?“

Was sollte ich tun? Wenn ich mich brutal prügeln, vielleicht totschlage­n ließ, nützte es mir auch nichts. Ich starrte in die grausamen Augen. Sie hätten aus Granit sein können, so wenig Licht und Wärme einer menschlich­en Seele leuchtete aus ihnen. In den Augen mancher Menschen kann man die Regungen ihrer Seele lesen, aber die seinen waren leer, kalt und grau wie das Meer selbst. „Nun?“

„Ja“, sagte ich.

„Sagen Sie: ,Jawohl, Käptn‘!“„Jawohl, Käptn!“verbessert­e ich mich.

„Wie heißen Sie?“

„Van Weyden, Käptn.“„Vorname?“„Humphrey, Käptn; Humphrey van Weyden.“

„Alter?“„Fünfunddre­ißig, Käptn.“„Das genügt. Gehen Sie zum Koch und lassen Sie sich in Ihren Pflichten unterweise­n.“

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