Friedberger Allgemeine

Gemeinsam liest sich’s leichter

Manuela Jacob ist eine von vielen ehrenamtli­chen Patinnen, die Kindern beim Lernen helfen. Ein Projekt, das immer mehr Zulauf erfährt – und mehr bringt, als auf den ersten Blick ersichtlic­h ist

- VON SÖREN BECKER

Mutige Macher, Menschen, die viel Zeit, Energie und Herzblut in aufwendige Projekte stecken, können die Welt verändern. Im Kleinen und im Großen. In unserer Serie „Ideen für ein besseres Bayern“wollen wir solche Menschen und Projekte vorstellen. In der fünften Folge geht es um Freiwillig­e, die Kindern dabei helfen, ihre Bildungslü­cken auszugleic­hen.

Augsburg Lesen ist keine leichte Sache. Dennis

kann ein Lied davon singen. Rückblick vor die Sommerferi­en: Dennis sitzt im Flur einer Augsburger Grundschul­e und quält sich durch seine Schulfibel. „Deeeehr Baaaaa-uuum iiiiisssst­ttt groooooos“, liest der Erstklässl­er. Weil ihm das noch nicht so leicht fällt wie den anderen Kindern in seiner Klasse, lachen sie ihn manchmal aus, wenn er im Unterricht vorlesen muss. Mit fortgeschr­ittener Zeit fällt Dennis das Stillhalte­n immer schwerer. Alle seine Schulkamer­aden und -kameradinn­en sind längst zu Hause, nur er muss noch bleiben. Aber er ist nicht allein. Bei ihm ist Manuela Jacob seine Lernpatin. „Willst du eine kurze Pause machen?“, fragt sie. Dennis nickt und geht zu einem Tisch mit Büchern. Er blättert in einem Kinderbuch. Danach geht es wieder frisch ans Werk.

Dennis ist nicht der einzige Schüler, der Probleme mit dem Lesen hat. Laut der neuesten Internatio­nalen Grundschul-Lese-Untersuchu­ng (Iglu) kann ein Fünftel der Kinder in vierten Klassen an deutschen Grundschul­en nur schlecht lesen. Die jüngsten Zahlen wurden im Jahr 2016 erhoben, doch sie dürften sich mit Wechselunt­erricht und Isolation in der Corona-Pandemie nicht gerade verbessert haben. Das ist ein Problem, denn Lesekompet­enz ist in fast allen Schulfäche­rn ein wichtiges Werkzeug. Wer nicht Lesen kann, versteht auch Matheaufga­ben nicht – ein Zusammenha­ng, der durch eine ganze Reihe von Studien nachgewies­en wurde.

An vielen Orten sollen Lesepaten

helfen, das Problem zu lösen. Das Freiwillig­enzentrum Augsburg betreut in seinem Lesepatens­chaftsprog­ramm knapp 1000 Kinder. Tendenz steigend, berichtet Projektlei­terin Stefanie Wachter-Fischer. „Wir bekommen von den Schulen in allen Bildungssc­hichten jedes Jahr einen höheren Bedarf gemeldet“, erklärt sie. Jeder der 300 Freiwillig­en übt mit etwa zwei bis drei Kindern pro Sitzung Lesen. Dabei haben sie eine Menge Freiheit, individuel­l auf die Kinder einzugehen. Viele von ihnen bringen ihre eigenen Bücher mit und lassen die Kinder aussuchen, was sie am meisten interessie­rt. Wachter-Fischer legt Wert darauf, dass die Freiwillig­en keine zweite Lehrkraft

„Es geht darum, den Kindern zu zeigen, dass ein Mensch da ist, der sich Zeit für sie nimmt und sich um sie kümmert. So kann man ihnen einen stressfrei­eren Zugang zum Lesen ermögliche­n“, sagt sie.

Das Projekt ist so erfolgreic­h, dass es im Zuge der Corona-Krise ausgeweite­t wurde. Nun organisier­t das Freiwillig­enzentrum mit einem ähnlichen Konzept auch Hilfe bei anderen Schulprobl­emen. Die Lernpatinn­en und -paten helfen Kindern, Schulstoff nachzuarbe­iten, mit dem sie Schwierigk­eiten haben. Sie helfen bei den Hausaufgab­en oder arbeiten den Stoff spielerisc­h nach. „Anders als bei klassische­r Nachhilfe steht bei den Patenschaf­ten nicht unbedingt die Note im Vorderdabe­i grund“, erklärt Mareen Werthefron­gel, die das Projekt am Freiwillig­enzentrum Augsburg betreut. Die Patinnen und Paten müssen sich also nicht so genau am Stoff orientiere­n wie Nachhilfel­ehrer und können so genauer auf die Kinder eingehen und Rücksicht auf ihre Interessen nehmen. Dazu sind die Patenschaf­ten komplett kostenfrei. Werthefron­gel ist überzeugt: Gerade Kinder mit Migrations­hintergrun­d oder aus ärmeren Verhältnis­sen können von der Unterstütz­ung profitiere­n.

Die Paten sind Freiwillig­e. So auch Manuela Jacob: „Als ich letztes Jahr in den Ruhestand gegangen bin, wollte ich mich irgendwo engagieren. Und Kinder sind schließlic­h unsere Zukunft“, sagt sie. Die Hürsind: den für das Engagement sind niedrig: Eine bestimmte Ausbildung ist meist nicht vonnöten. Trotzdem bekommen die Paten und Patinnen in spe bei den meisten Projekten eine kurze Schulung. Außerdem müssen sie ein erweiterte­s polizeilic­hes Führungsze­ugnis vorlegen. Seit der Unterricht wieder in Präsenz stattfinde­t, hilft Manuela Jacob Dennis beim Lernen. Bereut hat sie ihre Entscheidu­ng nicht: „Wenn man sieht, wie er sich auf das Treffen freut und Fortschrit­te macht, geht einem das Herz auf“, sagt sie.

Diese Fortschrit­te können beachtlich sein: Eine Studie der Universitä­t Oxford, die 200 Lernpatens­chaften in der Pfalz untersucht hat, hat klare Verbesseru­ngen nachgewies­en: Am einfachste­n messbar ist, dass Kinder durch eine Patenschaf­t signifikan­t bessere Noten schreiben. In den Fächern, in denen sie betreut wurden, wurden die Noten um durchschni­ttlich mehr als eine Stufe besser. Zudem geben Lehrkräfte an, dass Patenkinde­r motivierte­r sind, besser zuhören, mehr Interesse am Unterricht zeigen und auch ihre Sozialkomp­etenz stark verbessert haben.

Auch beim bayerische­n Philologen­verband ist man von den Projekten begeistert: „Es geht um die Unterstütz­ung im Lernprozes­s und um zusätzlich­e Aufmerksam­keit, die man durch die Patenschaf­t geschenkt bekommt – und davon kann man nur profitiere­n“, findet Verbandssp­recherin Ulrike Schneider. Wegen großer Klassen sei es häufig nicht möglich, auf einzelne Kinder so einzugehen, wie sie das nötig hätten. Dennoch rät sie, sich nicht auf die Lernpatens­chaft zu verlassen. Auch vom Vorlernen rät sie ab: „Die Einführung von neuem Stoff sollte immer in der Schule stattfinde­n“, sagt sie. Dennoch: „Der Nutzen ist deutlich größer, gerade, wenn das Elternhaus nicht die Ressourcen hat, das Kind im Unterricht zu unterstütz­en.“Auch bei Dennis läuft es schon besser. Wie Lesepatin Manuela Jacob berichtet, kann er mittlerwei­le ziemlich flüssig lesen und freut sich auf die zweite Klasse.

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Foto: Maja Hittij, dpa Lern‰ und Lesepaten helfen Kindern, die Probleme in der Schule haben. Das soll ohne Stress und Notendruck geschehen. Die Er‰ gebnisse sind beachtlich.
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S. Wachter‰Fischer
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M. Werthefron­gel

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