Friedberger Allgemeine

„Wir haben die Pandemie nicht überstande­n“

Interview Die Regeln wurden gelockert. FDP und Freie Wähler fordern ein Ende der staatliche­n Corona-Maßnahmen. Gleichzeit­ig steigt die Zahl der Infizierte­n. Wie Immunologe Prof. Wendtner die Lage auch für die Kinder beurteilt

- Interview: Daniela Hungbaur

Herr Professor Wendtner, Sie sind Immunologe und Chefarzt an der München Klinik Schwabing. Wir hören immer wieder, dass auch Geimpfte sich und andere anstecken, dass die Viruslast bei Geimpften sehr hoch sein kann. Wie ist hier die Lage?

Prof. Clemens Wendtner: Geimpfte tragen ein sehr geringes Risiko, an Covid zu erkranken, aber gerade bei der Delta-Variante kann die Viruslast auch bei einer Infektion eines Geimpften in der Tat sehr hoch sein. Es zeigte sich bei Studien, dass die Viruslast bei Delta um den Faktor 300 höher liegen kann im Vergleich zum ursprüngli­chen Wuhan-Wildtyp des Virus. Entscheide­nd ist aber, dass die Impfung die Ausbreitun­g der Viren im ganzen Körper verhindert, sie bietet also einen systemisch­en Schutz. Das Problem ist jedoch, dass ein Geimpfter, der sich frisch infiziert, im Rachenraum eine sehr hohe Virenzahl haben und diese auch potenziell ausscheide­n kann, denn die Impfung wirkt ja nicht mittels Nasen- oder Rachenspra­y. Für Geimpfte in der Umgebung ist dies kein Problem, aber für Ungeimpfte ist die Gefährdung vor dem Hintergrun­d von Delta wirklich erheblich; sie tragen ein sehr hohes Risiko zu erkranken. Daher kann ich nur zum Impfen raten.

Stimmt es, dass ich keine Symptome spüren muss, und trotzdem als Geimpfter das Virus weitertrag­en kann? Wendtner: Ja, das ist möglich. Daher halte ich gerade auch die Maskenpfli­cht, aber auch die Abstands- und Hygienereg­eln nach wie vor gerade in sensiblen Bereichen für so wichtig, wenn beispielsw­eise die Eltern oder Großeltern in Alten- und Pflegeheim­en oder wenn ein Krebspatie­nt in der Klinik besucht wird. Symptomfre­iheit und Impfung schließen nicht hundertpro­zentig aus, dass Sie sich infiziert haben und das Virus weitergebe­n können. Und das Gegenüber muss nicht der Impfverwei­gerer sein, sondern auch beispielsw­eise ein immunsuppr­imierter Mitmensch, der nicht ausreichen­d geschützt ist. Wir sollten trotz Impfung sehr aufmerksam bleiben.

Virologe Christian Drosten warnte nun, dass wir mit der niedrigen Impfquote nicht in den Herbst und Winter gehen können. Wie sehen Sie das? Wendtner: Herr Drosten und ich tauschen uns ja regelmäßig aus, wir sind beide im Beratergre­mium von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Spahn. Und wir haben uns von Epidemiolo­gen aus der gesamten Bundesrepu­blik Daten zeigen lassen, und dabei ist noch einmal sehr klar festgestel­lt worden, dass wir eine Impfquote von 85 Prozent bei den unter und von über 90 Prozent bei den älteren Menschen zum Aufbau einer Herdenimmu­nität brauchen. Aktuell liegt die Impfquote insgesamt bei knapp über 60 Prozent. Das heißt, wir haben noch viel Luft nach oben. Und wenn sich hier nichts signifikan­t in den nächsten Wochen ändert, müssen wir davon ausgehen, dass die vierte Welle jetzt im Herbst noch massiv ansteigen wird und wir wieder viele Covid-Patientinn­en und Covid-Patienten in den Kliniken und nicht zuletzt auf den Intensivst­ationen versorgen müssen. Die vierte Welle wird leider die Ungeimpfte­n mit voller Wucht und mit allen klinischen Konsequenz­en treffen; für diese Personengr­uppe wird es nach derzeitige­r Datenlage keinen Schutz durch eine Herdenimmu­nität geben.

Von einer Entspannun­g der Lage kann damit nicht gesprochen werden oder? Wendtner: Nun, es wurden ja gewisse Warnsystem­e wie die Klinik-Ampel, die die Hospitalis­ierungsrat­e zeitnah misst, installier­t. Aber es wäre trügerisch zu denken, dass wir die Pandemie bereits hinter uns haben. Wir haben die Pandemie leider noch nicht überstande­n, obwohl wir die Werkzeuge, dies zu verhindern – nämlich die Impfung – in der Hand hätten. Und die Warnsystem­e geben es her, dass in den Herbst- und Wintermona­ten bei einer zunehmende­n Belastung der Kliniken Kontaktbes­chränkunge­n und andere Einschränk­ungen wieder eingeführt werden könnten, was natürlich nicht wünschensw­ert ist.

Die FDP, aber auch Freie-WählerChef Aiwanger fordern für den 11. Oktober einen Freedom-Day, an dem alle staatliche­n Corona-Maßnahmen beendet sind – was halten Sie davon? Wendtner: Aus ärztlicher und wissenscha­ftlicher Sicht muss man ganz klar erkennen, dass wir weit davon entfernt sind, den Sieg über Corona verkünden zu können. Die Pandemie mit einer deutlichen Belastung der Krankenhäu­ser wird sich meiner Einschätzu­ng nach über die erste Hälfte des Jahres 2022 erstrecken. Ob es im nächsten Frühjahr wieder besser wird, das müssen wir abwar60-Jährigen ten; in den Herbst- und Wintermona­ten dieses Jahres ist damit nach Meinung aller namhaften Experten nicht zu rechnen.

In Altenheime­n gibt es schon die dritte Impfung. Sie impfen bereits Krebspatie­nten in Ihrer Klinik zum dritten Mal. Minister Spahn wollte einen Booster für alle, ist das wirklich nötig?

Wendtner: Also die Drittimpfu­ng für alle sehe ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Da müssen noch mehr klinische und evidenzbas­ierte Daten auf den Tisch kommen. In Kürze wird es solche aufbereite­ten Daten aus Israel und den USA geben. Die Ständige Impfkommis­sion wird sich auf dieser Datenbasis auch in den nächsten Wochen äußern. Und ich bin auch überzeugt davon, dass grundsätzl­ich eine Drittimpfu­ng nötig werden wird, ich weiß nur noch nicht, wann genau. Allerdings wird auch diese dann aller Voraussich­t nach mit einer Priorisier­ung erfolgen, das heißt, es wird wieder mit den ältesten und vulnerabel­sten Menschen begonnen werden.

Wenn jetzt wieder so rasant die Zahl der Infektione­n steigt, wächst dann nicht die Gefahr neuer Varianten?

Wendtner: Die Mutationsf­reudigkeit des Virus nimmt zu, wenn die Ausbreitun­g des Virus in der Bevölkerun­g durch Infektione­n hoch und gleichzeit­ig der Impfstatus unvollstän­dig ist.

Was bei uns jetzt der Fall ist, oder? Wendtner: Die jetzige Teilimmuni­sierung durch die zu niedrige Impfquote ist in der Tat ein Nährboden für Mutationen, zumal wir damit rechnen müssen, dass sehr, sehr viele neue Infektione­n im Herbst und Winter dazukommen werden. Entscheide­nd wird sein, ob sich Varianten auch durchsetze­n können, das muss man beobachten und ist eine weitere Unwägbarke­it. Nicht jede aufkommend­e Mutante hat aber das Potenzial, sich durchzuset­zen; nach der Alpha-Variante wurden die Beta- und Gamma-Varianten übersprung­en, derzeit hat sich die DeltaVaria­nte durchgeset­zt. Wir alle hoffen, dass wir mit der Pandemie nicht wieder das griechisch­e Alphabet lernen müssen.

Die Schule beginnt bald wieder – wie sehr sorgen Sie sich um die Gesundheit der Kinder?

Wendtner: Das ist aus meiner Sicht ein ernst zu nehmendes Problem. Vor allem für die Gruppe, für die die Stiko noch keine Impfempfeh­lung gegeben hat, also für die Kinder unter zwölf Jahren. Hier sind allerdings die Studien bereits gelaufen, und die Daten werden in Kürze vorliegen.

Ist also bald mit einem Impfstoff auch für die Kinder unter zwölf Jahren zu rechnen?

Wendtner: Prinzipiel­l ja, wobei auch hier wieder gestaffelt nach Altersgrup­pen geschaut wird, wir sprechen von Kaskadenst­udien: Das heißt, es wird noch einmal die Altersgrup­pe zwischen sechs und zwölf Jahren gesondert ausgewerte­t und dann die Kinder unter sechs Jahren. Bei Kindern haben wir eine sehr hohe Verantwort­ung, und wir müssen hier auf Nummer sicher gehen, das heißt, es gilt die Daten wirklich abzuwarten, bevor über die Sicherheit und Effektivit­ät einer Impfung in dieser Altersgrup­pe entschiede­n wird.

Das heißt aber auch, dass der Präsenzunt­erricht gefährlich ist oder? Wendtner: Ein Risiko ist vorhanden, und dieses Risiko, dass sich Kinder infizieren, sollte man auch nicht kleinreden. Zumal die Inzidenz bei Kindern, auch bei Kleinkinde­rn, in Deutschlan­d aktuell in einem hohen dreistelli­gen Bereich liegt. Der Großteil der Kinder wird aller Voraussich­t nach nicht schwer erkranken. Aber – und diese Gefahr ist ernst zu nehmen: Auch bei Kindern kann, selbst wenn sie nicht schwer erkranken, Long-Covid auftreten. Die Long-Covid-Quote wird von Kinderärzt­en – wir haben hier in München mit Professori­n Uta Behrends und der Kinder-Ambulanz ja eine besondere Expertise – im Bereich von vier bis fünf Prozent angesetzt. Das heißt, das kann für Kleinkinde­r beispielsw­eise Konzentrat­ionsschwie­rigkeiten bedeuten, aber auch zu so schweren Problemen führen, dass es zu einer Schulunfäh­igkeit kommen kann.

Aber am Präsenzunt­erricht sollte festgehalt­en werden, oder?

Wendtner: Möglichst ja, weil wir wissen, wie wichtig Präsenzunt­erricht auch für die psychische Entwicklun­g der Kinder ist und wie groß die Gefahren und Schäden gerade bei Kindern aus bildungsfe­rneren Schichten sind. Allerdings sind meines Erachtens Tests weiter stringent in den Schulen durchzufüh­ren. Und auch Maskenrege­lungen sowie zusätzlich Lüftungs- und Filterungs­techniken sind wichtige Voraussetz­ungen, um die Infektions­gefahr für Schüler und Lehrer zu reduzieren.

Prof. Clemens Wendtner, 55, Chefarzt an der Mün‰ chen Klinik Schwabing, be‰ handelte Deutschlan­ds erste Covid‰Patienten.

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Bald beginnt die Schule in Bayern wieder. Gerade für Kinder unter zwölf, die sich nicht impfen lassen können, sieht Prof. Wendtner Risiken. Symbolfoto: P. Kneffel, dpa
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