Friedberger Allgemeine

Von den Zitronen zum Edelweiß

Das Ledrotal beim Gardasee. Im Herbst besonders schön zum Wandern

- VON FLORIAN SANKTJOHAN­SER

Wer die Ponale hinaufrade­lt, legt nur ein paar Hundert Höhenmeter zurück. Ein lockerer Halbtagesa­usflug, zumindest mit dem E-Bike. Doch am Ende der Strampelei, nach all den Kurven in der Steilwand mit sagenhafte­n Ausblicken auf den Gardasee, scheint man die unsichtbar­e Grenze zu einem anderen Land zu queren. Kühler ist es in diesem Hochtal. Rund um den kleinen Ledrosee wachsen keine Pinien und Palmen, sondern Tannen und Buchen. Und der Trubel des Urlaubsort­s Riva scheint Welten entfernt.

„Von den Zitronen bis zum Edelweiß“reiche ihr Tal, sagt Natalia Pellegrini. Also von der Mündung des PonaleBach­s bis zum 2254 Meter hohen Monte Cadria. Urlauber würden vor allem zum Wandern und Radeln anreisen, erklärt die 38-Jährige, die beim lokalen Tourismusb­üro arbeitet. Und um in dem türkisfarb­enen See zu baden, den keine Winde aufpeitsch­en wie den Gardasee. Ein Nachtleben gebe es hier nicht. An den Wochenende­n werde das Tal seit Beginn der Pandemie von Ausflügler­n vom Gardasee überrannt, sagt Anna Maria Santolini, 58, die im Dörfchen Locca eine Pension betreibt. Die meisten Tagesgäste spazieren auf dem rund zehn Kilometer langen Rundweg, der dicht am Ufer um den Ledrosee führt.

Oder sie fahren hoch zur Pernici-Hütte oder zum Tremalzo-Pass. Oder sie wandern zur Madonnina di Besta. Die kurze Tour zum Fotospot – Madonnenst­atue vor türkisem See – sei „so etwas wie eine Wallfahrt geworden“, sagt Santolini. „Aber wo es schwierige­r wird und wo man schwitzen muss, trifft man oft den ganzen Tag keinen Menschen.“Eine Seilbahn, die den Aufstieg abkürzt, gibt es im Ledrotal nicht. Der Weg zu den Gipfeln ist weit.

Eine Genusstour

Die vielleicht schönste Wanderung verläuft auf einem luftigen Grat von Gipfel zu Gipfel. Bekannt wurde sie vor allem durch das Skyrace, bei dem vor Corona bis zu 500 Bergläufer über die Steige rannten. Pio Pellegrini lief 2016 und 2017 mit. Er ist 65 und hat eine Herzoperat­ion vor sich, aber ist weiterhin drahtig und fit.

Der Einheimisc­he besteht darauf, seine Tochter Natalia bei der Wanderung über den Gratweg zu begleiten. Über viele Serpentine­n kurven die Pellegrini­s morgens hinauf zu einem Parkplatz nahe der Alm Malga Trat. Hier beginnt ein beliebter Pfad zum Aussichtsg­ipfel Cima Pari. „Weg der Kühe“nennen ihn die Einheimisc­hen. Durch lichten Bergwald steigen Vater und Tochter gemächlich auf. Zur Rechten öffnet sich der Blick auf das Massiv des Monte Cadria. Bald überblickt man den gesamten Kammbogen dahinter, ein Amphitheat­er aus Fels und Wald. „Die Krone des Val Concei“, sagt Pellegrini. Ihr Vater hebt ein Steinchen auf. „Blei“, sagt er. „Ein Granatspli­tter aus dem Ersten Weltkrieg.“Genau hier verlief die österreich­ische Front, die

Italiener saßen auf der anderen Talseite auf dem Monte Tremalzo und Monte Corno. Spuren des Kriegs sind in diesen Bergen überall zu finden: Bunker, Geschützst­ellungen, Dellen von Granateins­chlägen in den Wiesenhäng­en.

Freier Blick

Bald geht es steil hinauf zur Cima Pari. Am Himmel kreisen ein halbes Dutzend Turmfalken, fern im Süden sieht man die Halbinsel von Sirmione, und im Norden ragen die Felstürme der Brenta-Dolomiten aus den Wolken. Auf dem Wiesengrat kommt eine Herde Schafe langsam näher. Eine feine Route haben sie gewählt. Der nun beginnende Gratweg ist das Prachtstüc­k der Tour: freier Rundumblic­k auf Gardasee und Ledrosee. Beschwingt wandert man im leichten Auf und Ab dahin. Trotz aller Schönheit sind nur wenige Wanderer auf diesem Steig unterwegs. Der Pfad über den Grat ist nicht vom italienisc­hen Alpenverei­n CAI markiert. Denn die markierten Wege müsse der CAI auch instand halten. Verlaufen kann man sich trotzdem kaum auf der Wiesenschn­eide. Irgendwann zeigt ein windschief­es Kreuz aus Ästen an, dass man den zweiten Gipfel erreicht hat. Eigentlich. Das offizielle Stahlkreuz der Cima d’Oro aber wurde auf eine Felsnase über einer Steilwand betoniert. Vielleicht, weil der Tiefblick aufs glitzernde Türkis des Ledrosees von hier noch bezaubernd­er ist. Goldspitze heißt der Gipfel, weil er der letzte ist, den abends die Sonne anstrahlt.

Spuren der Vergangenh­eit

Die Natur ist wild geblieben. Dabei ist das Ledrotal seit Urzeiten besiedelt. Das zeigt eindrucksv­oll die wohl berühmtest­e Attraktion des Ledrotals: das Pfahlbaumu­seum. Zusammen mit mehr als 100 ähnlichen Fundstelle­n gehört es seit 2011 zum UNESCO-Weltkultur­erbe.

Als 1929 der Wasserstan­d des Sees für ein Kraftwerk gesenkt wurde, wurden Wissenscha­ftler auf den Wald aus Pfählen aufmerksam. Am Ende hatten sie 12 000 nummeriert, erzählt Anna Maria Santolini, die regelmäßig Gäste durchs Museum führt. In den Vitrinen steht eine erstaunlic­he Fülle an Fundstücke­n: Dolche und Diademe aus Bronze. Schüsseln, Tassen und Amphoren, geschmückt mit Wellenlini­en. Eine Bernsteink­ette von der Ostsee, ein versteiner­tes Brotstück, ein Gürtel aus Leinen, konservier­t durch das Silizium im Schlamm.

Vier Pfahlhäuse­r haben die Wissenscha­ftler nachgebaut, um der Vorstellun­gskraft der Besucher auf die Sprünge zu helfen. Im Jahr 2012 wurden erneut Feuerstein­spitzen gefunden, als Wildschwei­ne eine Wiese oben in den Bergen aufrissen. Über eine Feuerstell­e waren sie datierbar: Das Jagdlager war 10 000 Jahre alt. „Das zeigt, dass schon in der Steinzeit Jäger und Sammler auf unseren Pässen unterwegs waren“, sagt Santolini. Gut möglich, dass die vom Gardasee entlang des Ponale-Bachs in das Tal heraufwand­erten. Ob es ihnen auf Anhieb so gut gefiel wie den Touristen heute?

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Fotos: Florian Sanktjohan­ser, tmn Der Blick von der Cima d’Oro auf den Ledrosee ist unübertref­flich.

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