Missbrauch: Oft sind es die Väter
Studie untersucht sexuelle Gewalt in Familien
Berlin Bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Familien sind die Täter ganz überwiegend Männer und ihre Opfer meist weiblich – das hat eine am Dienstag in Berlin von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs vorgestellte Studie ergeben. Sie ist Ergebnis eines Forschungsprojekts von Wissenschaftlerinnen der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Grundlage der Studie waren vertrauliche Anhörungen und schriftliche Berichte von Betroffenen, Angehörigen sowie weiteren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die der Kommission vorlagen.
Deren Vorsitzende und Autorin der Studie, Sabine Andresen, sagte, es gab und gebe eine große Scheu, sich in die Familie einzumischen. Viele Menschen würden denken, es gehe sie nichts an, was hinter der Haustür einer Familie vor sich gehe, sagte die Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universität. Auch bei Fachkräften der Jugendämter sei diese Scheu vorhanden gewesen, hätten Opfer von Missbrauch der Kommission berichtet. Dringend nötig sei daher die weitere Aufarbeitung – und diese betreffe besonders auch die Jugendämter und ihr Agieren in den vergangenen Jahrzehnten.
Für die Studie „Sexuelle Gewalt in der Familie. Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche von 1945 bis in die Gegenwart“wurden insgesamt 870 Berichte ausgewertet. Festgestellt wurden dabei 87 Prozent männliche und 13 Prozent weibliche Täter. Zum sexuellen Missbrauch zählten Vergewaltigung,
Mütter duldeten die Taten in vielen Fällen
aber auch Handlungen wie Reiben und Berühren über der Kleidung. Fast die Hälfte der 1153 angegebenen Täter (48 Prozent) waren leibliche Väter, Pflegeväter und Stiefväter. Außerdem nannten Betroffene Groß- und Stiefonkel, Brüder, Großväter und andere Verwandte. Zehn Prozent der Täter und Mittäter waren Mütter. Viele Betroffene erlebten dabei sexuelle Gewalt durch mehr als eine Person. Teilweise wussten diese, so die Studie, voneinander, sprachen sich ab oder planten und organisierten die sexualisierte Gewalt gemeinsam.
Unter den Opfern waren knapp 89 Prozent Mädchen und weibliche Jugendliche, zehn Prozent waren männlich. In einigen Fällen wurde das Geschlecht nicht angegeben. Die jüngsten Betroffenen, die sich an die Kommission wandten, waren 16, die ältesten 80 Jahre alt. Die meisten Berichte stammten von 40- bis 60-Jährigen. Betroffene wurden bedroht und geschlagen – insbesondere die Mütter halfen ihnen häufig nicht und duldeten den Missbrauch. Ebenso fehlte Hilfe von Schule oder Jugendämtern. Betroffene berichteten, dass sie als Kinder nicht ernst genommen worden seien.
Die unabhängige Kommission wurde 2016 von der Bundesregierung einberufen und veröffentlichte bereits mehrere Auswertungen. Die tatsächliche Verbreitung sexueller Gewalt gegen Kinder in Deutschland lässt sich dennoch allenfalls erahnen, da es zu wenig verlässliche Daten gibt. Die SPD-Politikerin Angela Marquardt, die im Betroffenenrat der Kommission sitzt, sagte: „Alle vorhandenen Formen sexueller Gewalt finden auch in Familien statt.“Das sei schon seit Generationen so. Die Betroffenen hätten ein Recht auf Aufarbeitung. Sie kritisierte: „Es gibt keine nachhaltige Debatte über den Tatkontext Familie, anders als beim Sport und der Kirche. Das muss sich dringend ändern.“