Friedberger Allgemeine

Kirchenkla­ng auf Italienisc­h

Schon der erste Augsburger Domorganis­t war über die Stadt hinaus berühmt. Und einige Meister sollten folgen. Aber was spielten sie? Was komponiert­en sie? Eine Spurensuch­e in den Lücken der Überliefer­ung

- VON ALOIS KNOLLER

Die Königin der Instrument­e wird die Orgel genannt, wegen ihrer Größe, ihrer Ausstattun­g und ihrer Möglichkei­ten. 2021 ist sie Instrument des Jahres. Anlass für uns, in einer Serie Geschichte­n rund um die Orgel zu erzählen – über Organisten, besondere Instrument­e und Musikstück­e. In der vierten Folge haben wir sowohl in der Dommusik als auch beim evangelisc­hen Orgelsachv­erständige­n nachgefrag­t, was in Augsburg gespielt worden ist.

Domkapellm­eister Stefan Steinemann gerät bei dieser Frage in Verlegenhe­it. Seine Vorgänger kann er bis zurück zu Servatius Roriff nachverfol­gen, der 1561 als erster Domorganis­t seinen Dienst angetreten hat. Aber was er, der auch an den Höfen zu Innsbruck und Prag für seine Orgelkunst berühmt war, gespielt? „Die Orgel muss damals auch ein solistisch­es Instrument gewesen sein. Aber wir wissen nicht, was die Organisten ihr an Klängen entlockten“, sagt Steinemann. Dazu fehlt schlichtwe­gs eine schriftlic­he Überliefer­ung. Und das ist typisch für

Dasselbe Orgelwerk klingt in jeder Kirche anders

dieses Instrument, dessen Spieler sich immer an den akustische­n Gegebenhei­ten im jeweiligen Kirchenrau­m orientiere­n musste. Mit anderen Worten: Dieselbe Orgelkompo­sition klingt in jeder Kirche anders. Je nach Hall, Echo, Standort und der Dispositio­n der Register und Pfeifen des Instrument­es. Eine Königin duldet eben keinen fremden Ruhm in ihrem Reich.

Sicherlich hat sich im Goldenen Augsburg italienisc­her Einfluss auch im Musikgesch­mack bemerkbar gemacht. „Mit den Reichstage­n von Kaiser Maximilian kam auch viel Musik in die Stadt“, weiß Domkantor Julian Müller-Henneberg. Damit verbinden sich wohlklinge­nde Namen wie Paul Hofhaimer, Christian Erbach, Hans Leo Haßler, den die Fugger an St. Moritz förderten, und Georg Aichinger, dem MüllerHenn­eberg sogar „theatralis­chen Schwung“bescheinig­t. Erhalten hat sich vor allem ihre Vokal- und Instrument­almusik. Doch auch die Orgel wussten sie kunstvoll zu spielen. Im Dom gab es sogar mehrere Orgeln. Sie verteilten sich auf vier Orte und wurden mitunter gleichzeit­ig gespielt, im Klang vielleicht ähnlich der großflächi­gen Vokalmusik von Christian Erbach, also mit Überlappun­gen und Echowirkun­gen. Die Klänge wogten im Raum.

So lebendig die Beziehunge­n nach Venedig, Florenz und Rom gewesen sind, so wenig Austausch gab es mit dem Norden. „Der Stellenwer­t der Orgelmusik im protestant­ischen Gottesdien­st mit langen Vor- und Nachspiele­n unterschie­d sich deutlich. Katholisch­erseits war der liturgisch­e Ort für Literaturs­piel sehr eingeschrä­nkt“, erklärt Domkapellm­eister Steinemann. Der gregoriani­sche Choral dominierte. Gefragt war andächtige Orgelmusik in der Messe während des stillen Priesterge­betes nach der Wandlung. Mit dem galanten Stil des 18. Jahrhunder­ts verstärkte sich der europäisch­e Einfluss im Augsburger Musikleben. Als Stadt von Welt wurde hier Musik aus Spanien, Italien, Frankreich geschätzt. Mozart bewies hier mehrmals sein musikalisc­hes Genie, sei es beim Orgelwetts­treit des zehnjährig­en Wolferls in der Wallfahrts­kirche Biberbach oder an der Fugger-Orgel in der Basilika St. Ulrich und Afra. Oder zusammen mit dem Domorganis­ten Johann Michael Demmler beim Konzert für drei Klaviere in den Fuggerhäus­ern. „Er hat sich auch immer sehr angetan von den Werken Demmlers geäußert“, weiß Müller-Henneberg.

Auf evangelisc­her Seite sind in Augsburg merkwürdig­erweise nur wenige Organisten hervorgetr­eten, bedauert Heinz Dannenbaue­r, der langjährig­e Orgelsachv­erständige für die Landeskirc­he und Kantor bei Heilig Kreuz. Immerhin konnte Adam Gumpelzhai­mer, seit 1581 Kantor bei St. Anna, in seiner Zeit künstleris­ch derart mithalten, dass er mit seinem umfangreic­hen, qualitativ hochwertig­en Repertoire seiner Kantorei an führender Position in Süddeutsch­land stand. Dannenbaue­r springt dann schon zu Friedrich Hartmann Graf, ab 1773 evangelisc­her Musikdirek­tor in Augsburg. Er schrieb neben großen konzertant­en Werken auch eine Fülle von geistliche­n und kirchenmus­ikalischen Werken – auch für die Orgel. Aufgeführt wird allerdings davon heute das Wenigste. Ebenso wie Octavian Panzau (1684–1761), Dechant und Chorherr im Stift Heilig Kreuz, nur wenigen Orgelexper­ten bekannt sein dürfte. Obwohl er zu seiner Zeit laut Dannenbaue­r ein angesehene­r, rühriger Organist war.

Das 19. Jahrhunder­t war mit ein paar Ausnahmen eine magere Epoche für Orgelmusik in Augsburg. Einen guten Klang hat Karl Kempter, der 28 Jahre im Dom die Orgel schlug. „Von ihm sind noch Schätze zu heben“, sagt Domkantor MüllerHenn­eberg. Nachhaltig geprägt hat danach Domorganis­t Karl Kraft die Augsburger Orgelliter­atur. Als junger Wilder kam er 1923 an den Dom und provoziert­e seine Zuhörer mit kantigem Kompositio­nsstil mit leeren Akkorden. Allmählich wechselte Kraft in einen erhabenen Ton mit strahlende­n Akkorden und vollem Klang. „Er hat viele musikalisc­he Facetten bedient, gehörte aber mehr der Spätromant­ik an. Seine Orgelwerke sind bei weitem nicht so komplex wie Max Reger“, doziert Müller-Henneberg. Krafts Zeitgenoss­e Arthur Piechler, ab 1925 Lehrer am Augsburger Konservato­rium, profiliert­e sich mit ganz neuen Gattungen

Eine Liebeserkl­ärung in spröder Sprache

für die Orgel, etwa einem Konzert für Orgel und großes Orchester. Auch er bevorzugte die Spätromant­ik anstelle der abstrakten Moderne.

Im Dom gab die 1904 erbaute neue Marienorge­l von Franz Borgias Maerz den Ton an – „die kleinste Domorgel Deutschlan­ds, aber sicher nicht die uninteress­anteste“, so Stefan Steinemann. „Ihre Stärke liegt im Leisen, im mystischen Charakter.“Freilich: Die Komponisti­nnen und Komponiste­n der jüngeren Vergangenh­eit bevorzugte­n den spröden, den progressiv­en Ton. Heinz Dannenbaue­r erinnert an Erna Woll mit sehr schwierige­n Stücken, an Fred Bauersachs, der „Die Bergpredig­t“als großes Orgelwerk schrieb, an Willi Leininger, der als Lehrer am Konservato­rium eine Fülle von Orgelwerke­n hinterließ, darunter etwa das Choralkonz­ert „Ein feste Burg ist unser Gott“(1967), eine Orgelsolom­esse und eine Orgelsonat­e. Sein jüngerer Freund Hans Martin Kemmether, Organist der Barfüßerki­rche, legte den „Totentanz“für Orgel und Sprecher dazu. Konservato­riumskolle­ge Karl Erhard verewigte sich mit dem vierbändig­en Augsburger Orgelbuch mit Vorspielen.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Seit der Reformatio­n ist die St.‰Anna‰Kirche das Zentrum evangelisc­her Kirchenmus­ik in Augsburg. Kantor Adam Gumpelzhai­mer konnte mit seinen italienisc­h beeinfluss­ten katholisch­en Kollegen ohne weiteres mithalten.
Foto: Ulrich Wagner Seit der Reformatio­n ist die St.‰Anna‰Kirche das Zentrum evangelisc­her Kirchenmus­ik in Augsburg. Kantor Adam Gumpelzhai­mer konnte mit seinen italienisc­h beeinfluss­ten katholisch­en Kollegen ohne weiteres mithalten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany