Friedberger Allgemeine

Entscheide­t sich die Wahl schon vor dem Wahltag?

Immer mehr Deutsche stimmen per Brief ab. Was Experten davon halten

- VON MICHAEL POSTL UND MICHAEL STIFTER

Augsburg Wenn am 26. September die Wahllokale öffnen, haben Millionen Deutsche längst ihre Stimme abgegeben. Immer mehr Menschen nutzen die Briefwahl, die ursprüngli­ch nur als Notlösung für Bürgerinne­n und Bürger gedacht war, die nicht selbst vor Ort wählen können. Die Abstimmung per Post läuft schon seit Wochen – und mit ihr eine Debatte darüber, ob das ein Problem ist, wenn über einen so langen Zeitraum gewählt werden kann.

Jörg Siegmund ist Wahlforsch­er an der Akademie der politische­n Bildung in Tutzing. Er findet nicht, dass der Briefwahl-Boom – in diesem Jahr könnte sogar die Mehrheit der Deutschen schon vorab wählen – das Ergebnis der Bundestags­wahl verfälscht. „Ich denke nicht, dass die Legitimati­on des Bundestage­s darunter leidet“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Kritiker bemängeln, dass die Entscheidu­ngsgrundla­ge sich in den Wochen vor dem Wahltag immer wieder verändern kann. Macht ein Kandidat einen gravierend­en Fehler, verändert ein unvorherse­hbares Ereignis oder ein Skandal die Prioritäte­n, würde mancher womöglich doch anders abstimmen als auf dem längst ausgefüllt­en Briefwahlb­ogen.

Ein Beispiel: Bei der baden-württember­gischen Landtagswa­hl 2011 waren die Grünen auch deshalb so stark, weil es kurz zuvor zur Reaktorkat­astrophe in Fukushima gekommen war und die Ökopartei für den Ausstieg aus der Atomkraft steht. Hätte ein großer Teil der Wähler schon vorher per Briefwahl abgestimmt, wäre das Ergebnis womöglich anders ausgefalle­n.

Für Wahlforsch­er Siegmund ist das trotzdem kein Grund, das Instrument der Briefwahl infrage zu stellen. Schließlic­h gebe es auch objektive Gründe wie Abwesenhei­t oder Krankheit, die jemanden daran hindern, ins Wahllokal zu gehen.

Der Politikwis­senschaftl­er kann sich allerdings vorstellen, das angestaubt­e Brief-Konzept durch eine digitale Lösung zu ersetzen. In Estland beispielsw­eise sei das bereits gang und gäbe. „Dann könnte man seine Wahl am Tag der Entscheidu­ng auch noch einmal modifizier­en, falls etwas Gravierend­es passiert“, erklärt Siegmund. Er glaubt nicht, dass der lange Zeitraum, in dem die Stimmen für die Bundestags­wahl abgegeben werden können, für Olaf Scholz, Armin Laschet oder Annalena Baerbock zum Vor- oder Nachteil werden könnte. „Es bringt nichts zu taktieren. Der Gedanke, dass sich ein Kandidat oder eine

„Dass sich ein Kandidat oder eine Kandidatin mehr erlauben kann, wenn schon ein gewisser Teil der Stimmen eingegange­n ist, ist reine Spekulatio­n.“

Wahlforsch­er Jörg Siegmund

Kandidatin mehr erlauben kann, wenn schon ein gewisser Teil der Stimmen eingegange­n ist, ist reine Spekulatio­n“, sagt Siegmund.

Ohnehin dürfte es angesichts des knappen Rennens und der zahlreiche­n möglichen Bündnisse schwierig werden, taktisch zu wählen. So etwas funktionie­rt vor allem dann, wenn es einen klaren Favoriten gibt und es darum geht, einem möglichen Koalitions­partner in die Regierung zu verhelfen. Ende August gab fast jeder Zweite in einer Allensbach-Umfrage an, sich noch nicht für eine Partei entschiede­n zu haben. Die Unentschlo­ssenheit sei damit so groß wie seit 20 Jahren nicht, erklärten die Meinungsfo­rscher. Ausgezählt werden die Briefwahlz­ettel übrigens erst gemeinsam mit allen anderen Stimmen nach Schließung der Wahllokale um 18 Uhr.

Im lesen Sie, warum es wenig Anlass gibt, an der Briefwahl zu zweifeln.

Newspapers in German

Newspapers from Germany