Paris macht dem Terror den Prozess
Die islamistischen Anschläge vom November 2015 erschüttern Frankreich bis heute. Nun hat das Verfahren gegen die mutmaßlichen Täter begonnen. Und schon zum Auftakt will einer von ihnen unbedingt etwas loswerden
Paris Die Tränen fließen bereits am Eingang. Mit einer schnellen Geste wischt die Frau sie sich aus den Augen, zieht ihre Gesichtsmaske etwas höher und geht dann entschlossen durch die Tür, an der Polizisten stehen. Sie legt ihre Tasche auf das Band, passiert eine Schranke und sieht sich unsicher um: Wohin muss sie jetzt? Da kommt einer der jungen Männer im pinken T-Shirt auf sie zu, die den Eintreffenden helfen sollen, sich in dem riesigen Justizpalast zurecht zu finden. Um ihren Hals hat die Frau ein Band mit einem Badge, einem Namensschild, ohne den hier nichts geht. Das Band ist rot und kennzeichnet sie damit als eine der Nebenklägerinnen, die nicht von Journalistinnen und Journalisten angesprochen werden wollen. Wer bereit ist, mit der Presse zu reden, trägt ein grünes Band. Die meisten haben rot gewählt.
Fast 1800 Nebenklägerinnen und Nebenkläger werden zum „Jahrhundert-Prozess“um die Terrorserie des 13. November 2015 in Paris erwartet, der am Mittwoch begonnen hat. Es handelt sich um Überlebende, Verletzte, Traumatisierte sowie Hinterbliebene der insgesamt 130 Menschen, die an jenem Abend getötet wurden. Das Gericht bemüht sich erkennbar darum, es ihnen nicht noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon für sie ist.
Die ersten beiden Verhandlungstage sind alleine dafür reserviert, jeden einzelnen von ihnen aufzurufen. Fünf Wochen lang werden rund 300 Opfer und Angehörige ihre Erlebnisse schildern. Alle haben dafür eine halbe Stunde Zeit. Während des gesamten Prozesses steht für sie eine psychologische Betreuung bereit. Als Zeugen geladen sind auch der ehemalige Staatspräsident François Hollande und Bernard Cazeneuve, der zum Zeitpunkt der Anschläge Innenminister war. 330 Anwältinnen
und Anwälte sind vor Ort. Bevor die Verhandlung beginnt, stehen Trauben an Frauen und Männern in schwarzen Roben zusammen und diskutieren. Für sie alle beginnt eine intensive Zeit, das wissen sie.
Es handele sich um einen „außerordentlichen, einen historischen Prozess“, sagt der Präsident des Gerichts, Jean-Louis Périès, später in einigen einleitenden Worten. „Denn die Fakten, die wir verhandeln werden, gehören zu den historischen Ereignissen dieses Jahrhunderts.“Er weist auch darauf hin, dass die Verhandlung für das Staatsarchiv gefilmt wird. Das ist in Frankreich überhaupt erst zum 13. Mal der Fall.
Dieser Prozess ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich und bemerkenswert. Durch die schiere Zahl der Betroffenen und Nebenkläger. Durch die Dauer: achteinhalb Monate soll vor dem Spezial-Schwurgericht verhandelt werden. Oder durch den 750 Quadratmeter großen Verhandlungssaal, der 550 Personen fassen kann, und die angrenzenden Säle, in die das Geschehen übertragen wird. Sie wurden eigens für diesen Prozess innerhalb des historischen Baus des Justizpalastes errichtet. Fast acht Millionen Euro kostete das. Der große Saal mit seinem Mobiliar aus schlichtem, hellem Holz und seinen hohen, weißen Säulen an den Wänden wirkt nüchtern und feierlich zugleich. An den Seiten sind Bildschirme aufgestellt, damit auch die Anwesenden in den hinteren Reihen möglichst viel sehen.
Vor allem aber handelt es sich um einen außerordentlichen Prozess wegen der Taten, um die es geht. 20 Männer sind angeklagt, mitverantwortlich zu sein für das immense Leid, den Terror, den Schrecken für die unmittelbar Betroffenen – und für die ganze Stadt, das ganze Land.
In der Nacht des 13. November 2015 waren zehn junge Männer, aufgeteilt in drei Teams, losgefahren, um zu morden.
Monatelang war die Terrorserie, zu der sich der selbst ernannte Islamische Staat (IS) bekannt hatte, überwiegend aus Belgien und Syrien vorbereitet worden. Den Auftakt machte ein Attentäter vor dem Sportstadion Stade de France im nördlich gelegenen Vorort SaintDenis, in dem die deutsche und die französische Fußball-Nationalmannschaft gerade ein Freundschaftsspiel austrugen. Er zündete vor einem der Eingänge seinen Sprengstoffgürtel und riss einen Passanten mit sich in den Tod. Kurz darauf sprengten sich zwei weitere Männer in die Luft. Weitere Opfer gab es zumindest dort nicht. Zuvor hatten die drei Terroristen versucht, sich Eintritt ins Stadion zu verschaffen, wurden ohne Ticket jedoch abgewiesen.
Zeitgleich waren zwei weitere Mord-Kommandos im Pariser Osten unterwegs. Eines von ihnen schoss auf Menschen in den Außenbereichen von Cafés und Restaurants. Es war ein für November ungewöhnlich milder Abend damals. Viele saßen draußen – das machte sie zu leichten, wehrlosen Zielscheiben. 39 Menschen wurden getötet, etliche verletzt. Währendessen richteten drei weitere Terroristen in der Musikhalle Bataclan ein Blutbad an, schossen in die Menge, zielten auf einzelne und auf Fliehende.
Es sei die Rache für Einsätze des Westens und Frankreichs in Syrien, riefen sie Zeuginnen und Zeugen zufolge. Ein gutes Dutzend völlig verängstigter Konzertbesucher nahmen sie zeitweise als Geiseln, bis die Polizei dem Horror kurz nach Mitternacht ein Ende setzte. Alle drei
Terroristen starben. Und Dutzende Menschen mit ihnen. Möglicherweise werden im Laufe des Prozesses Tonmitschnitte aus dem Inneren des Bataclan abgespielt. Sie dürften schwer erträglich sein.
Nur einer der zehn Männer, die an jenem Abend unterwegs waren, um zu morden, überlebte: Salah Abdeslam.
Sein Sprengstoffgürtel, der später zwischen Sperrmüll im Süden von Paris gefunden wurde, war defekt. Ob er versuchte, ihn zu benutzen, ist unklar: Er selbst sagte mehreren Vertrauten, er habe im letzten Moment die Meinung geändert. Was ist davon zu halten? Sein Bruder Brahim, der zu einem der Terrorkommandos gehörte, sprengte sich vor einem Café in die Luft. Nach Angaben der Ermittler setzte Salah Abdeslam drei Selbstmordattentäter vor dem Stade de France ab, bevor er weiter alleine in Paris unterwegs war, sich dann von Freunden abholen und nach Brüssel fahren ließ. Dort wurde er im März 2016 gefasst. Dieselbe Terrorzelle führte in den Folgetagen zwei Attentate in der belgischen Hauptstadt durch. Bei Anschlägen auf den Flughafen und eine U-Bahnstation in der Stadt starben 32 Menschen.
Der heute 31-jährige Abdeslam ist der bekannteste der 20 Angeklagten. Weil er als einer der Haupttäter gilt, richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf ihn. Am Mittwoch zum Prozessauftakt soll er eigentlich nur seine Personalien angeben. Doch er möchte sofort etwas loswerden. „Als erstes möchte ich sagen, dass es keine Göttlichkeit außer Allah gibt und dass Mohammed sein Diener und Botschafter ist“, sagt er. Beim Sprechen nimmt er seinen Mund- und Nasenschutz ab, ein üppiger Bart wird sichtbar. „Das werden wir später sehen“, antwortet ihm Gerichtspräsident Périès. Als Abdeslam die Namen seiner Eltern nennen soll, widersetzt er sich. „Die Namen meiner Mutter und meines Vaters haben hier nichts zu suchen.“Was sein Beruf sei? Er habe jeden Beruf hinter sich gelassen, um „Kämpfer des Islamischen Staates“zu werden, sagt er.
Wird er den Prozess für IS-Propaganda nutzen wollen? Wird er zur Aufklärung beitragen? Wird er das Leid der Verletzten und Angehörigen noch vergrößern? Erhalten sie Gewissheit? Fest steht: Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe. Sowie: Er war maßgeblich an den Anschlägen beteiligt. In Belgien wurde Abdeslam bereits zu einer Haftstrafe von 20 Jahren verurteilt, weil er kurz vor seiner Festnahme auf Polizisten geschossen hatte.
Neben ihm sind weitere Schlüsselfiguren der Terrorzelle angeklagt, die logistische oder finanzielle Hilfe geleistet, Waffen geliefert oder Unterkünfte bereitgestellt haben oder an der Terror-Planung mitgewirkt haben sollen. Große Aufmerksamkeit liegt hier vor allem auf dem Belgier marokkanischer Abstammung Mohamed Abrini. Von dem Kindheitsfreund Salah Abdeslams wird vermutet, dass er zum Mord-Kommando hätte gehören sollen, aber vorzeitig von Paris nach Brüssel zurückfuhr. Bei den Brüsseler Attentaten im März 2016 machte er abermals einen Rückzieher. Zwei weitere Männer, Muhammad Usman und Adel Haddadi, wurden später in einer österreichischen Flüchtlingsunterkunft aufgegriffen: Auch sie sollen Kandidaten für Selbstmordattentate gewesen sein.
Außer Salah Abdeslam antworten am Mittwoch alle anwesenden Angeklagten auf die Fragen des Gerichtspräsidenten. In zwölf Fällen fordert die Staatsanwaltschaft lebenslange Haftstrafen, in sechs weiteren 20 Jahre Gefängnis. Gegen
Diese Verhandlung im Justizpalast ist historisch
In der Stadt hat man Angst vor einem neuen Blutbad
sechs Männer wird in Abwesenheit verhandelt: Einer ist in der Türkei inhaftiert, von den fünf anderen wird vermutet, dass sie im syrischirakischen Grenzgebiet ums Leben gekommen sind. Mehrere von ihnen hatten innerhalb der IS-Terrororganisation hochrangige Posten inne.
Auf der Anklagebank säßen direkt Beteiligte, nicht nur unbedeutende Helfershelfer, betonte Arthur Dénouveaux, Präsident der Opferund Hinterbliebenen-Vereinigung „Life for Paris“, im Vorfeld. „Wir haben Leute aus der ersten Reihe vor uns, die in vollem Ausmaß zur Verantwortung gezogen werden können und müssen.“Er betonte das nicht ohne Grund. Beim Prozess um die Attentate gegen das Satiremagazin Charlie Hebdo, eine Polizistin und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015, der Ende des vergangenen Jahres lief, lag die Schwierigkeit darin, dass die drei Haupttäter tot waren. Viele der Angeklagten, die ihnen entscheidende Unterstützung zukommen ließen, versuchten, sich herauszureden: Sie hätten nichts gewusst und lehnten die IS-Ideologie ab.
Und jetzt? Ist die Furcht immer noch groß. Sie ist wieder groß. Die Furcht vor neuen Anschlägen. Kurz nach dem Auftakt des Prozesses um die Attentate vom Januar 2015 war ein Mann vor das ehemalige Redaktionsgebäude von Charlie Hebdo gegangen, stach dort mit einem Fleischermesser auf zwei Menschen ein und verletzte diese schwer. Dass das Magazin umgezogen war, wusste er nicht einmal.
Man ist also vorgewarnt, man stellt sich auf alles ein. Deshalb wurde ein Sicherheits-Korridor um den Justizpalast in Paris eingerichtet, es gibt Personenkontrollen und ein Großaufgebot an Polizeikräften. Sicherheit aber, das hat Paris auf so bestialische Art erfahren müssen, lässt sich kaum garantieren.