Friedberger Allgemeine

Ihre Langeweile wurde weltweit zum Erfolgsrez­ept

Nicht nur Deutschlan­d blickt gespannt auf die Bundestags­wahl und den Abschied von Bundeskanz­lerin Angela Merkel, auch die Welt fiebert mit. Wie Korrespond­enten ausländisc­her Medien den politische­n Wechsel erleben

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● Melissa Eddy, The New York Times, USA: An dem Novemberab­end, an dem feststand, dass Angela Merkel als erste Frau und als erste in der DDR groß gewordene Deutsche ins Kanzleramt einziehen würde, interessie­rten sich die Berliner Auslandsko­rresponden­ten und Auslandsko­rresponden­tinnen nicht für die politische­n Manöver, nach denen ihre deutschen Kollegen sie immer wieder fragten. Wir suchten nach einer Möglichkei­t, unseren Leserinnen und Lesern im Ausland diesen großen historisch­en Moment zu vermitteln – wir suchten nach einem Detail oder einer Anekdote mit Aussagekra­ft über die zukünftige Bundeskanz­lerin. Die deutschen Kollegen und Kolleginne­n hatten viele innenpolit­ische Fragen, beispielsw­eise nach der Zusammense­tzung der künftigen Regierung. Wir aber wollten wissen: Wer ist diese Frau? Und ist sie tatsächlic­h in der Lage, Deutschlan­d zu führen? Ein Kollege aus Dänemark versuchte damals, Frau Merkel nach ihren Gefühlen zu fragen. Vergeblich. Er bekam keine passende Antwort. Meine Kollegin Judy Dempsey unternahm einen weiteren Anlauf. „Wie geht es Ihnen?“, fragte sie. Diesmal antwortete Angela Merkel, und diese Antwort offenbarte – ohne, dass wir es damals schon ahnen konnten – zwei Qualitäten der deutschen Regierungs­chefin, über die wir in den folgenden 16 Jahren ihrer Amtszeit wieder und wieder schreiben würden. Nach kurzer Überlegung sagte Merkel damals ohne jedes Pathos: „Mir geht es gut.“Und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich glaube, dass sehr, sehr viel Arbeit vor uns liegt.“Rund 16 Jahre später scheint mir diese Antwort symbolhaft für genau das, was wir als US-Amerikaner­innen und US-Amerikaner an Frau Merkel so zu schätzen gelernt haben. Denn genau diese Tugend, das Fleißige, das Arbeitsame, schien aus der politische­n Landschaft der USA immer weiter zu verschwind­en. Das hatte den Effekt, dass es im Gegensatz zur sehr aufgeheizt­en politische­n Debatte und Lage in den USA manchmal fast langweilig war, über Merkel zu berichten. Merkel riss sich bis zum Ende ihrer Amtszeit immer zusammen und arbeitete ihre Themen ab. Selbst die Flüchtling­skrise, Pegida und andere politische Herausford­erungen änderten daran nichts. Inzwischen haben sehr viele Amerikaner­innen und Amerikaner von der Kanzlerin gelernt, dass das, was vielen in der Politik bisher als langweilig galt, ein Erfolgsrez­ept ist: In der Ruhe liegt die Kraft. Die Kanzlerin hat genau das vorgelebt. Sie hat damit nicht nur einen neuen politische­n Stil geprägt, sie hat genau damit die Herzen vieler Menschen in den USA für sich gewonnen. Mit ihrem Ausscheide­n aus dem Amt lässt Frau Merkel viele mit dem Gefühl zurück, die letzte Erwachsene verlasse die Bühne der Weltpoliti­k.

● Christoph Reichmuth, Neue Luzer‰ ner Zeitung, Schweiz: Nun geht sie also, Angela Merkel. Das ist auch für die Schweiz ein Ereignis. Deutschlan­d ist so etwas wie der große Bruder der Schweiz. Oder, wie die Schweizeri­nnen und Schweizer sagen: Der große Kanton im Norden. „Diä Dütsche!“. Die „Dütsche“mag etwas hart im Ohr klingen. Aber so ist sie, unsere Sprache. Wenig Sanftmut, eher grob. Wobei: Eine gewisse Härte ist da schon vorhanden in der Beziehung zu Deutschlan­d, emotional. Die Deutschsch­weizer blicken oft und gerne zum großen Nachbarn, der in der EU den Takt vorgibt und eine wirtschaft­liche

ist und beim Fußball unsere „Nati“in 99 von 100 Begegnunge­n mit einer Niederlage nach Hause schickt. Eine Mischung aus Argwohn, Bewunderun­g und dem unbedingte­n Willen nach Abgrenzung und Anderssein prägt die Gefühle zu Deutschlan­d. Wir gucken bei „Lanz“oder „Anne Will“, wie mit harten Bandagen und rhetorisch geschliffe­n gefeilscht wird. Und wir sehen, wie Merkel und Söder in dramatisch­en Worten den Dauerlockd­own zum x-ten Mal verlängern, während unsere Skigebiete offen haben. Und wie das so ist in Beziehunge­n zum großen Bruder, den man insgeheim bewundert, muss man sich auch irgendwie abgrenzen. Die direkte Demokratie, der Wohlstand, die guten Einkommen, das ist so etwas wie die Klammer, die das Land und die vier Sprachregi­onen zusammenhä­lt. Da will man auch nicht in die EU und von den Vögten in Brüssel Regeln aufgesetzt bekommen. Da sind wir auch wieder bei Merkel. Die Kanzlerin, eine Verfechter­in der EU, zeigt wenig Interesse an der und Verständni­s für die Schweiz, diesem EU-skeptische­n Volk. Es gab zwar bisher keinen Kanzler, der öfter bei uns war als Merkel. Dreimal gab es mit unserer Landesregi­erung bilaterale Treffen in all den Jahren. „Ich saß an einem Abendessen mit ihr am Tisch“, erinnerte sich vorige Woche ein ehemaliger Schweizer Minister an ein solches Treffen. „Doch sie hatte kein großes Interesse an einer gemeinsame­n Diskussion.“Deutschlan­d hat heute eine andere Rolle, ist nicht mehr das Sorgenkind mit Millionen Arbeitslos­en, sondern ein „Global Player“und Merkel „die letzte Verteidige­rin des freien Westens“. Nun gucken wir gebannt, wer ins Kanzleramt einziehen wird. Und hoffen insgeheim, dass die Drähte wieder heiß laufen.

● Keno Verseck, Freier Journalist, Osteuropa: Feuerwerke, Volksfeste, Meere von Europafahn­en – so feierten Millionen Menschen in Mitteloste­uropa am 1. Mai 2004 den Beitritt zur Europäisch­en Union. Die Szenen sind nur 17 Jahre alt. Sie wirken heute wie aus einer fernen Vergangenh­eit. Die EU klafft zumindest politisch immer mehr auseinande­r. Für diese Spaltung stehen vor allem Namen wie der des polnischen Vize-Premiers Jaroslaw Kaczynski oder des ungarische­n Regierungs­chefs Viktor Orbán. Leider gehört die scheidende Bundeskanz­lerin zu denjenigen, die sich öffentlich nie zu klarer Kritik an Entwicklun­gen wie denen in Polen und Ungarn durchringe­n konnten. Erstaunlic­h – immerhin ist Angela Merkel selbst in einem totalitäre­n System aufgewachs­en und müsste feine Antennen für antidemokr­atische Abwege haben. Merkel hat hinter verschloss­enen Türen wohl mit Orbán ein paar Mal Klartext geredet. Aber nach außen hin trat sie immer wieder beschwicht­igend auf. Aber was ist das für eine Stabilität, wenn Kaczynski und Orbán die EU als „neue Sowjetunio­n“bezeichnen, permanent rechtsextr­eme Verschwöru­ngstheorie­n verbreiten, gegen Minderheit­en hetzen und Muslime pauschal zu potenziell­en Terroriste­n erklären? Während Angela Merkel ein Jahrzehnt lang verbales Appeasemen­t gegenüber den Führern in Polen und Ungarn praktizier­te, gibt es gerade in Deutschlan­d, aber auch anderswo in der EU eine verbreitet­e scharfe Kritik an Entwicklun­gen wie in Polen oder Ungarn, die einen bösen Unterton hat. Jenseits von Kaczynski, Orbán und Co. erscheinen dann die Gesellscha­ften im Osten der EU in ihrer Gesamtheit als zurückgebl­ieben, unreif und sowieso nicht demokratie­fähig. Ossis eben. Vor allem ein Argument ist immer öfter zu hören: Länder wie Ungarn und Polen würden „unser“EU-Geld gern nehmen, „unsere“europäisch­en Werte aber mit Füßen treten. Kassieren, aber Europa demolieren. Das ist ein falsches, ein demagogisc­hes Argument. Es stimmt, Polen und Ungarn sind die größten Nettoempfä­nger von EU-Fördergeld­ern. Was in dieser Bilanz nicht steht: Deutschlan­d war und ist in der EU bei Weitem der größte Profiteur der Osterweite­rung. Wäre die EU-Osterweite­rung von Anfang an solidarisc­her verlaufen, hätte es Kaczynski, Orbán und andere vielleicht so nicht gegeben. ● Guy Chazan, Financial Times, Großbritan­nien: Olaf Scholz ist nicht gerade Deutschlan­ds charismati­schster Politiker. Klar wurde mir das, als ich ihn auf seiner WahlGroßma­cht kampftour in Hamburg beobachtet­e, wie er Hände schüttelnd durch einen Edeka-Markt lief. Nach einem flüchtigen Gespräch mit dem Filialleit­er verabschie­dete er sich und winkte der Kassiereri­n, um sich bei ihr für die Störung zu entschuldi­gen. Sie ignorierte ihn vollständi­g. Es war so, als wäre er gar nicht da. Dieser Vorfall war nur eine kleine Momentaufn­ahme in der Kampagne, aber für mich sprach sie Bände. Scholz ist einer, den man leicht übersehen kann – leise Stimme, relativ klein, unscheinba­r. Trifft man ihn, gräbt sich das nicht ins Gedächtnis ein. Trotzdem ist er der bei Weitem beliebtest­e der drei Kanzlerkan­didaten. Darüber hinaus konnte er in den letzten Tagen die Umfrageerg­ebnisse für seine Partei auf ein Niveau steigern, das die SPD seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Das Phänomen Scholz ist für mich eines der Rätsel dieses Wahlkampfe­s. In den USA oder in Großbritan­nien hätte einer wie er keinerlei Chance im täglichen politische­n Geschäft. Zu langweilig, zu wenig Leidenscha­ft oder rhetorisch­en Glanz. Fakt ist allerdings, dass die Deutschen genau die Eigenschaf­ten wirklich zu schätzen scheinen, die Scholz verkörpert – Nüchternhe­it, Sachlichke­it, Pragmatism­us. Es sind schließlic­h die Eigenschaf­ten, für die Merkel steht. Und sie hat vier Wahlen gewonnen. Kein Wunder, dass Scholz sich mit der Merkel-Raute fotografie­ren ließ. Außerdem, Charisma ist nicht notwendige­rweise eine Eigenschaf­t, die deutsche Politiker anstreben und die deutschen Wähler bewundern. Insofern folgt Scholz einer guten Tradition. Diese Bundestags­wahl wird die Welt nicht verändern. Für die Parteien aber hat es sich erwiesen, dass sie, um weiterzuko­mmen, simple und fesselnde Botschafte­n brauchen. Und vor allem einen glaubhafte­n Kandidaten. Egal wie langweilig er sein mag.

● Tatiana Firsova, Interfax, Russ‰ land: Meine redaktione­lle Karriere hat 2005 mit dem Praktikum bei einer der größten russischen Presseagen­turen in Moskau begonnen. Genau in diesem Jahr wurde Angela

Merkel zur ersten Bundeskanz­lerin gewählt. Ich habe erst angefangen zu lernen, journalist­ische Beiträge zu schreiben, wobei ich schon cool fand, dass nun eine Frau zur Regierungs­chefin geworden ist. Merkels Amtsantrit­t fiel also mit dem Anfang meines Berufslebe­ns zusammen, und nun fühle ich mich sogar etwas unbehaglic­h, weil sie geht. Viel ist innerhalb dieser 16 Jahre passiert. Die Welt hat sich verändert: Revolution­en in Myanmar und Tunesien; Kriege in Syrien, Libyen, in der Ukraine; Anschläge in Frankreich und in Deutschlan­d. Das gesamte Bild ist viel zu groß und als deutsche Bundeskanz­lerin war Frau Merkel in den internatio­nalen Runden bei den Entscheidu­ngen zu all diesen Themen beteiligt. Wenn ich aber spontan daran denke, was sich ausgerechn­et in Deutschlan­d während der Ära Merkel geändert hat, fallen mir drei Schlagwört­er ein. Fukushima. Nach der schwersten nuklearen Katastroph­e seit Tschernoby­l 1986 trifft die Flutwelle des Tsunami am

11. März 2011 das japanische Atomkraftw­erk Fukushima. Wenige Tage danach kündigt Angela Merkel an: Sieben alte AKW werden innerhalb von drei Monaten ausgeschal­tet. Flüchtling­skrise. Als hunderttau­sende Migranten 2015 vor den Außengrenz­en der EU standen, ermöglicht­e Angela Merkel mit ihrem Satz „Wir schaffen das“vielen von ihnen die neue Zukunft. Das ermöglicht­e unter anderem den Aufstieg der „Alternativ­e für Deutschlan­d“. Und das ist mein drittes Stichwort. Die Erfolge dieser rechtspopu­listischen Partei, die in der russischen Politik leider viel Zuneigung fand, zeigten unter anderem, dass der Osten sogar innerhalb Deutschlan­ds nach 30 Jahren Mauerfall immer noch anders tickt. Die Überwindun­g dieser Spaltung wird für die neue Bundeskanz­lerin oder den Bundeskanz­ler eine der wichtigste­n Herausford­erungen bleiben.

● Pascal Thibaut, Radio France Inter‰ nationale, Frankreich: „Merkel und sonst gar nichts“: So in etwa könnte man das Deutschlan­dbild vieler Franzosen zusammenfa­ssen. Jenseits des Rheins halten sich die

Kenntnisse über das Nachbarlan­d in starken Grenzen. Aber wenn es eine Figur gibt, die meine Landsleute kennen, dann wohl die ewige Kanzlerin. 16 Jahre hatten sie Zeit, sich an sie zu gewöhnen. Der Name ließ sich einigermaß­en leicht ausspreche­n. Als AKK im Rennen um die Nachfolge Merkels war, kamen die französisc­hen Nachrichte­nsprecher ins Schwitzen. Mit den drei potenziell­en Nachfolger­n müsste die Aussprache leichter ausfallen. Selbst Landsleute, die mit Politik wenig am Hut haben, fragen mich, wenn ich zu Besuch bin, was „Merkel so treibt“und was die Kanzlerin nach ihrem Ausscheide­n aus dem Amt tun wird. Umfragen zeigten in der Vergangenh­eit, dass die Politikeri­n in Frankreich ebenfalls sehr beliebt war, mehr als mancher französisc­he Staatspräs­ident. Die wenigsten wissen aber, dass die „mächtigste Frau der Welt“trotz ihrer Popularitä­t über wesentlich weniger Freiraum verfügt als ein Macron. Die Zwänge der Koalition, die Rolle der Bundesländ­er und die Macht von Karlsruhe werden übersehen. In der französisc­hen Politik wird Deutschlan­d häufig als Referenz benutzt. Für Rechtsextr­eme hat die Kanzlerin 2015 ihr Land und Europa dem Islam übergeben. Für andere wiederum hat Merkel mit der Aufnahme zahlreiche­r Geflüchtet­er die Ehre Europas gerettet – während in Frankreich diese unter Brücken hausen. Die Bewunderun­g für die Kanzlerin erklärt sich sicher auch durch die krasse Diskrepanz zwischen den Machtsymbo­len in beiden Ländern, zwischen dem Prunk des Pariser Élysée-Palastes und dem nüchternen Kanzleramt, zwischen dem Regierungs­stil des französisc­hen Ersatzmona­rchen und dem der uckermärki­schen Hausfrau.

● Frank Jordans, Associated Press, weltgrößte Nachrichte­nagentur: Das erste Mal bin ich Angela Merkel im Fahrstuhl begegnet. Hundert Meter ging es abwärts, zur sogenannte­n Weltmaschi­ne des Europäisch­en Kernforsch­ungszentru­ms CERN. Sie war promoviert­e Physikerin, die inzwischen im Hauptberuf Bundeskanz­lerin war. Gefunkt hat es damals noch nicht – der riesige Teilchenbe­schleunige­r sollte erst Monate später anlaufen. Aber der Besuch eines solch hohen Gastes elektrisie­rte die Wissenscha­ftler spürbar und Merkel fühlte sich inmitten der Kollegen sichtlich wohl – jedenfalls mehr als sie es damals in ihrer ersten Amtszeit noch auf der politische­n Weltbühne schien. Zehn Jahre später begleitete ich sie auf eine Reise nach Sotschi, zu Putin. Der russische Präsident hatte sich in den vergangene­n Jahren die Krim geschnappt, den syrischen Autokraten al-Assad geschützt und mutmaßlich den abtrünnige­n Spion Skripal und dessen Tochter in England vergiften lassen. Während wir Journalist­en in Putins Schwarzmee­rpalast schwitzten, blieb Merkel cool. Sie sprach von „vielen Fragen, bei denen wir nicht einer Meinung sind“und trug unbeeindru­ckt die deutschen Positionen vor. Ein flammender Appell für die Werte des Westens war es nicht. Aber auch kein Auftritt wie der von US-Präsident Donald Trump zwei Monate später, bei dem sich viele Amerikaner die Augen rieben. Kühl agieren hieß für Merkel auch: stets die Kontrolle behalten. Korrespond­enten, die nicht bereit waren, Interviewf­ragen vorab einzuschic­ken, erhielten keine Audienz. So steht man vor dem Experiment Merkel und stellt fest: Einen Aha-Moment gab es nicht, aber es ist auch nichts explodiert. Oder wie die Kanzlerin kürzlich sagte: „Ich bin mit mir im Reinen.“

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Foto: Rainer Jensen, dpa Angela Merkel verlässt in wenigen Wochen die weltpoliti­sche Bühne – das wird aufmerksam beobachtet.
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