Friedberger Allgemeine

„Die Politik hat die Augen zugemacht“

Interview Der scheidende Caritas-Präsident Peter Neher sagt, warum die Pflege auch für die nächste Regierung eine Baustelle bleiben wird und wie seine Organisati­on in Afghanista­n hilft

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Herr Neher, zum Ende Ihrer Amtszeit an der Spitze der Caritas ist mit dem fluchtarti­gen Abzug des Westens aus Afghanista­n noch einmal ein historisch­es Ereignis über Sie hereingebr­ochen, das Sie sich sicher gerne erspart hätten. Die Caritas engagiert sich vor Ort in der humanitäre­n Hilfe. Wie steht es darum nach dem Sieg der Taliban?

Peter Neher: Mich hat das sehr erschütter­t, nicht nur wegen der Ereignisse an sich, sondern weil ich mich mit dem Land verbunden fühle. Meine erste große Auslandsre­ise als Caritas-Präsident ging 2004 nach Kabul und Pakistan. Die Caritas ist schon seit 1984 in Afghanista­n aktiv. Nach dem Sieg der Taliban ist die Lage katastroph­al. 18 Millionen Menschen gelten als vom Hunger bedroht, drei Millionen Kinder als mangelernä­hrt. Die Afghanen brauchen Hilfe.

Können Sie Ihnen diese Hilfe geben? Neher: Von unseren zwölf Projekten ruhen zehn. An zwei Projekten wird weitergear­beitet. Das eine ist eine orthopädis­che Werkstatt, wo orthopädis­che Hilfsmitte­l hergestell­t werden. Das andere ist ein Projekt für Tuberkulos­e- und Leprakrank­e. Die zehn Projekte, die ruhen, sind vorwiegend eingestell­t, weil die finanziell­en Mittel fehlen. Die Banken öffnen erst peu à peu wieder.

Aber wollen Ihre afghanisch­en Ortskräfte nicht einfach raus?

Neher: Es sind 27 Frauen und Männer, die für uns arbeiten. Mit ihren Familienan­gehörigen und denen, die früher für uns tätig waren, sind das knapp 180 Menschen. Wir haben all ihre Namen an das Auswärtige Amt gemeldet. Von ihnen konnte bisher niemand ausgefloge­n werden. Sie fühlen sich bedroht, auch wenn die Kolleginne­n und Kollegen dort sagen, es gebe keine akute Gefährdung. Es wäre wünschensw­ert, wenn die, die ausreisen wollen, das auch könnten. Es wollen aber nicht alle ausreisen, zum Beispiel weil ihre erwachsene­n Kinder nach der derzeitige­n Rechtslage keinen Anspruch haben, nach Deutschlan­d zu kommen.

Sie hatten als Caritas gar keine Chance, diese Leute herauszube­kommen. Dieser fluchtarti­ge Abzug muss Ihnen doch schlaflose Nächte bereitet haben? Neher: Hat es auch. Politisch ist das ein Desaster. Es ist einfach unglaublic­h, wenn man weiß, wie die Botschafte­n mit Agenten der Geheimdien­ste ausgestatt­et sind. Noch kurz vor der Flucht des Staatspräs­identen hieß es, die Taliban werden Kabul in drei, vier Monaten einnehmen. Das macht schon deutlich, dass der neue Bundestag dieses Desaster parlamenta­risch aufarbeite­n muss. Aber auch wir lagen falsch. Ich hatte Anfang Juli ein langes Gespräch mit unserem Büroleiter in Kabul. Er war weit davon entfernt zu sagen, es könne mit den Taliban jetzt schnell gehen.

Während die Bedrohung durch die Taliban weit weg erscheint, bedroht uns in Deutschlan­d das Coronaviru­s seit anderthalb Jahren sehr konkret. Die Caritas betreibt Altenheime, Krankenhäu­ser, Pflegedien­ste, Kindergärt­en, Schulen. Hadern Sie damit, dass es nicht gelungen ist, die Alten besser zu schützen?

Neher: Es waren auch Einrichtun­gen der Caritas betroffen, in denen Bewohnerin­nen und Bewohner gestorben sind. In der ersten Corona-Welle haben wir sehr auf das Thema Schutz gesetzt, ohne am Anfang über genügend Masken, Schutzkitt­el oder Schnelltes­ts zu verfügen. Es gab ständig neue Regelungen in den verschiede­nen Bundesländ­ern. Der Preis dafür war die Vereinsamu­ng der alten Menschen. Wir haben schon damals darauf aufmerksam gemacht, dass Menschen vom Kontakt leben, von Berührung, von Begegnung. Aber niemand – weder die Verantwort­lichen in der Politik noch bei uns – hatte jemals mit einer Pandemie solchen Ausmaßes zu tun gehabt. Es war eine dramatisch­e Situation. Da gibt es überhaupt nichts schönzured­en.

Spüren Sie, dass bei der Caritas Schwestern und Pfleger sagen, „Ich lasse mich nicht noch mal verheizen“? Neher: Speziell mit Blick auf Corona ist es mir nicht bekannt, dass es eine besondere Entwicklun­g dahin gibt. Aber es ist ein Thema überhaupt in den sozialen Berufen, sie verlangen einen starken persönlich­en Einsatz. Wenn sich die Menschen dann nicht die nötige Zeit für ihre Arbeit nehmen können, weil der Rahmen nicht stimmt, gibt es Spannungen. Das bleibt eine Dauerbaust­elle für den Gesetzgebe­r.

Bei der Pflege hat die Bundesregi­erung reagiert. Pflegerinn­en und Pfleger bekommen mehr Geld, der Eigenantei­l wurde begrenzt und Angehörige sind weitgehend vom Zuschuss befreit. Reicht das jetzt aus, um die Missstände in der Pflege zu beseitigen?

Neher: In der jetzt zu Ende gehenden Legislatur­periode ist eine Menge Positives erreicht worden, gerade für die stationäre Pflege. Das ist natürlich nicht ausreichen­d, was bei den Eigenantei­len erreicht wurde. Die nächste Bundesregi­erung kommt nicht drum herum, ein nachhaltig­es Konzept für die Finanzieru­ng zu beschließe­n. Vor allem die häusliche Pflege muss gestärkt werden, zum Beispiel durch Erhöhung des Pflegegeld­es oder ein Entlastung­sbudget für pflegende Angehörige. Die Politik hat bislang die Augen zugemacht, was mit den Haushaltsh­ilfen passiert, die bei Familien leben und sich um die Alten kümmern. Die kommen meistens aus Osteuropa und viele arbeiten schwarz zu niedrigen Löhnen. Wenn sie legal beschäftig­t werden, wird es zu Recht teurer; und das muss aber auch finanziert werden. Vergessen wir dabei nicht, dass drei Viertel der zu Pflegenden daheim versorgt werden.

Ist nach anderthalb Jahren Corona etwas dran an dem Urteil vieler Familien mit Kindern, dass sie in Deutschlan­d keine Lobby haben?

Neher: Es hat lange gedauert, bis Familien, Kinder und Jugendlich­e in der Pandemie das Gehör gefunden haben, das sie verdient haben. Das Problembew­usstsein war überhaupt nicht da. Die Schulen waren weit weg vom Standard der Digitalisi­erung, wie wir ihn aus anderen Bereichen gewohnt sind. Es war weitgehend individuel­l den Schulen überlassen, ob und wie die Kinder überhaupt lernen konnten. Viele Kinder in Deutschlan­d wurden dabei abgehängt, Eltern versuchten, die Doppelbela­stung aus Beruf und Unterricht zu Hause irgendwie zu schaffen. Die Bildungspo­litik hat an dieser Stelle absolut versagt.

War es für Sie leicht, einen Termin bei der Kanzlerin zu bekommen?

Neher: Nein. Alle anderthalb Jahre gab es ein Treffen zwischen den großen Wohlfahrts­verbänden und Angela Merkel. Sie müssen sich das so vorstellen, dass so ein Termin intensiv mit dem Kanzleramt vorbereite­t wird. Die Themen werden abgestimmt. Beim eigentlich­en Termin konnten wir zu den Problemen einen kurzen Impuls vortragen und Frau Merkel hat darauf geantworte­t. Sie war immer sehr gut vorbereite­t und hatte ein hohes Detailwiss­en. Das hat mich beeindruck­t. Aber mit der Kanzlerin geht es nicht um das Klein-Klein, sondern ein, zwei große Punkte. Dabei ist sie unprätenti­ös und ohne Schnörkel. Man kann mit ihr Klartext reden.

Im Oktober wird Ihr Nachfolger gewählt, dann sind Sie noch maximal vier Monate im Amt. Die Caritas ist ohne die katholisch­e Kirche nicht denkbar. Doch die Kirche steckt in einer schweren Krise. Gibt es in 20 Jahren noch eine Caritas, während die Kirche verschwund­en sein wird? Neher: Es wird auch in 20 Jahren noch eine Kirche mit ihrer Caritas geben. Wie die Gestalt der Kirche sein wird, das wird sicher ganz anders sein als heute. Aber wie genau, das weiß ich nicht. Die Kirche wandelt sich seit 2000 Jahren. Ich bin da nicht pessimisti­sch. Auch diese Kirche wird eine Caritas haben, sie ist als soziale Tätigkeit des Evangelium­s essenziell­er Bestandtei­l. Kirche nur aus Liturgie und Verkündigu­ng kann es nicht geben, sonst ist sie nicht mehr katholisch­e Kirche.

Leiden Sie an den Zuständen Ihrer Kirche, an den Missbrauch­sskandalen, dem Beschweige­n und der Selbstbezo­genheit? Macht Sie das nicht wahnsinnig?

Neher: Es ist für mich eine ganz dramatisch­e Situation. Der Begriff schmerzlic­h ist viel zu schwach dafür und trifft es nicht. Die Missbrauch­sskandale sind beschämend. Die Aufklärung ist zum Teil besser als ihr Ruf, dann aber wieder in großen Teilen halbherzig. Dieser Zustand ist nicht akzeptabel.

Was muss sich ändern?

Neher: Es muss sich viel ändern. Zum Beispiel in der Frage der Sexualmora­l sind wir überhaupt nicht mehr sprachfähi­g. Die Welt nimmt uns einfach mit den kirchliche­n Argumenten nicht wahr. Seit Jahrzehnte­n ist klar, dass hier vom Menschen aus gedacht werden muss. Es stehen dringende Veränderun­gen der Lehre an. Das ist offensicht­lich. Genauso überfällig ist die Frage der Ämter in der Kirche. Ich weiß aber, dass das weltweit nicht in der gleichen Brisanz wahrgenomm­en wird. Ich bin der Meinung, die Kirche hält es aus, wenn nicht alles in allen Teilen der Welt gleich behandelt wird. Um ein Beispiel zu nennen: Es gibt ja verheirate­te katholisch­e Pfarrer, nämlich wenn ein evangelisc­her Pfarrer katholisch wird. Dann bleibt er selbstvers­tändlich verheirate­t. Und auch in den mit Rom unierten Ostkirchen sind die Pfarrer verheirate­t. Das haben wir also schon.

Sollten auch Frauen zu Pfarrerinn­en geweiht werden können?

Neher: Ich denke, dass das ein dringendes Thema ist. Es ist aber nicht damit getan, nur Frauen das Amt zu übertragen. Wir müssen das Amtsverstä­ndnis diskutiere­n. Die Philosophi­e muss heißen, weg von der Selbstbezo­genheit und den Machtverhä­ltnissen des Apparates, hin zu den Gläubigen.

Was machen Sie, nachdem Sie den Schlüssel zum Präsidente­nbüro beim Pförtner abgegeben haben? Kehren Sie in Ihre Heimat, das Allgäu, zurück? Neher: Ich bleibe Priester des Bistums Augsburg und damit weiter Seelsorger. Ich werde aber nicht in das Allgäu zurückkehr­en, sondern in Freiburg bleiben, wo die Caritas ihre Zentrale hat und ich in den letzten 18 Jahren gewohnt habe. Nach ein paar Monaten Auszeit werde ich mich besonders in der Seelsorge für die Seelsorger­innen und Seelsorger im Erzbistum Freiburg engagieren.

Interview: Christian Grimm

„Man kann mit der Kanzlerin Klartext reden.“

Peter Neher, 66, ist in Pfronten geboren. Nach seiner Zeit als Caritas‰Chef will er im Bistum Freiburg als Seelsorger arbeiten.

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Foto: Jana Bauch, dpa Die Personalno­t im Pflegebere­ich ist ein wachsendes Problem, doch auch die Finanzieru­ng wird immer schwierige­r.
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