Friedberger Allgemeine

Plötzlich explodiert­e das Päckchen

Ein Rentner aus Ulm soll Paketbombe­n an Lebensmitt­elfirmen geschickt haben. Er streitet alles ab. Zum Prozessauf­takt schildert ein Opfer, wie sehr es unter den Folgen der Tat leidet

- VON ALEXANDER ALBRECHT

Heidelberg Natürlich steht keinem Angeklagte­n seine mutmaßlich­e Straftat auf der Stirn geschriebe­n – auch ihm nicht. Dass der Mann von kleinem Wuchs und dem spärlichen, grauen Haupthaar sein Gesicht hinter einem Aktendecke­l versteckt, hat mit dem großen Medieninte­resse am Mittwochvo­rmittag im Heidelberg­er Landgerich­t zu tun. Alle Augen richten sich auf den Rentner aus Ulm, der Paketbombe­n an drei Lebensmitt­elfirmen geschickt haben soll. Die große Frage in dem Prozess ist: Reichen die Indizien für eine Verurteilu­ng aus – oder ist er womöglich unschuldig?

Sicher ist, dass ein Herr am 15. Februar gegen 14 Uhr eine Postfilial­e in Ulm betritt. Die unscharfen Aufnahmen der Überwachun­gskamera zeigen einen Mann mit weißem Schal und einem Muster darauf, dunkler Schiebermü­tze und einer FFP-2-Maske. Der Vermummte legt drei Pakete mit explosivem Inhalt auf den Tisch, aufgegeben an den Eppelheime­r Capri-Sun-Hersteller Wild, den Discounter Lidl in Neckarsulm und den Babynahrun­gsproduzen­ten Hipp im oberbayeri­schen Pfaffenhof­en. Absender sind „Maria Schwarz“, „Doris Merkel“und „Christine Müller“. Sie wohnen angeblich in Studentenw­ohnheimen in München, Ulm und Augsburg. Die Ermittler finden später heraus: Die Frauen existieren gar nicht.

An den beiden Folgetagen detonieren die Sendungen bei Wild und Lidl, insgesamt vier Angestellt­e verletzen sich. Das dritte Paket kann in einem Paketverte­ilungszent­rum am Flughafen München abgefangen und entschärft werden. Als Sprengstof­f soll dem Täter eine Masse gedient haben, die er durch Abschaben von Zündholzkö­pfen gewann. Keine der Sendungen enthält ein Erpressung­sschreiben oder eine Forderung – dafür entdecken Polizisten, als sie das Haus des Angeklagte­n durchsuche­n, 13 Zentralfeu­erkartusch­en mit unterschie­dlichem Kaliber sowie zwei Zentralfeu­erpatronen, wie Oberstaats­anwalt LarsJörgen Geburtig verliest. Der Ankläger wirft dem 66-Jährigen das Herbeiführ­en von Sprengstof­fexplosion­en sowie gefährlich­e und versuchte schwere Körperverl­etzung vor. Er habe in Kauf genommen, dass Menschen Gliedmaßen,

Sehvermöge­n und Gehör verlieren. Es drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft.

Der Ulmer widerspric­ht vehement und verliest eine Erklärung im Stakkatost­il mit vielen Ich-Botschafte­n. „Ich bin nicht die von Ihnen gesuchte Person“, „Ich habe niemals in meinem Leben irgendjema­ndem etwas zuleide getan“, „Ich habe nie diesen Schal, diese Brille und die Mütze, die auf dem Video zu sehen sind, besessen“, „Ich bin unschuldig und hoffe auf Gerechtigk­eit“oder „Ich bin zur fraglichen Zeit zu Hause gewesen“.

Abschließe­nd attackiert der Angeklagte die Behörden. Er fände es grausam, wie die deutsche Justiz versuche, „mit viel Aufwand und Energie mein Leben zu zerstören“. Punkt. Das muss reichen, der Rentner lässt keine Rückfragen zu und will sich während des gesamten Verfahrens nicht mehr äußern.

Im Dunkeln liegt, was ihn zu den Anschlägen getrieben haben könnte. In seiner Biografie findet sich nicht mal ein Ansatz für ein Motiv. Geboren in Ulm, Realschula­bschluss, Elektroins­tallateur bei einem großen Fahrzeughe­rsteller gelernt und der Firma bis zum Ruhestand vor drei Jahren treu geblieben, ein eigenes Reihenhaus im Stadtteil Wiblingen. Eine klassisch-schwäbisch­e Schaffe-schaffe-Häusle-Biografie. Der Mann engagiert sich aber auch ehrenamtli­ch – für behinderte Menschen und Bootsflüch­tlinge aus Vietnam, unter denen sich seine spätere Frau befand. „Wir haben großes Vertrauen zueinander“, schildert er die Beziehung. Die gesamte Persönlich­keit ihres Mandanten passe nicht zu der eines kaltblütig­en Erpressers, sind die Verteidige­r Steffen Lindberg und Jörg Becker überzeugt.

„Unser Mandant hätte nie vor Gericht gestellt werden dürfen“, bilanziert Lindberg nüchtern. Es existieren jedoch auch Ermittlung­sansätze, die für den Rentner als Täter sprechen könnten. So kann niemand bezeugen, dass er sich am 15. Februar in seinem Haus aufgehalte­n hat. Verdächtig sind aus Sicht der Fahnder zudem die in der Wohnung entdeckten Packsets und Adressetik­etten – die gleichen, die auf den Paketen klebten.

Als ob es ihn gar nichts angehen würde, starrt der Mann unentwegt auf den Tisch der Anklageban­k, als das Gericht den ersten Zeugen hört. Der Logistikar­beiter in der Poststelle der Wild-Werke braucht eine Weile, bis er sprechen kann und fängt zu weinen an. „Da war die Hölle los“, sagt der 44-Jährige leise und wischt sich die Tränen aus den Augen. Zum Verhängnis wurde ihm ein Päckchen, so groß etwa wie eine Büchersend­ung. Es war nur allgemein an das Unternehme­n adressiert. Er habe es deshalb – wie immer in solchen Fällen – öffnen wollen, um der Rechnung oder dem Liefersche­in die richtige Abteilung zu entnehmen, erklärt der Mann. Dann passierte es. „Ich habe gedacht, ich fliege 20 Meter hoch – alles war schwarz vor Rauch“, erinnert sich der Schwetzing­er.

Noch heute ist er gezeichnet von den Folgen der Paketbombe, geht zum Psychologe­n, bekommt Medikament­e. Er berichtet von einer Panikattac­ke, Rauschen im Ohr, Schwindel. Obwohl ihm sein Arbeitgebe­r einen anderen Posten angeboten habe, arbeite er seit Mitte Mai wieder in der Poststelle. „Ich liebe diesen Platz, ich will ihn behalten“, sagt der Angestellt­e. „Aber es ist alles nicht so einfach für mich.“

Für den Prozess sind elf weitere Verhandlun­gstage bis Mitte November angesetzt.

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Foto: Uwe Anspach, dpa „Ich bin nicht die von Ihnen gesuchte Person“, sagt der Angeklagte (rechts) zum Pro‰ zessauftak­t in Heidelberg.

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