Plötzlich explodierte das Päckchen
Ein Rentner aus Ulm soll Paketbomben an Lebensmittelfirmen geschickt haben. Er streitet alles ab. Zum Prozessauftakt schildert ein Opfer, wie sehr es unter den Folgen der Tat leidet
Heidelberg Natürlich steht keinem Angeklagten seine mutmaßliche Straftat auf der Stirn geschrieben – auch ihm nicht. Dass der Mann von kleinem Wuchs und dem spärlichen, grauen Haupthaar sein Gesicht hinter einem Aktendeckel versteckt, hat mit dem großen Medieninteresse am Mittwochvormittag im Heidelberger Landgericht zu tun. Alle Augen richten sich auf den Rentner aus Ulm, der Paketbomben an drei Lebensmittelfirmen geschickt haben soll. Die große Frage in dem Prozess ist: Reichen die Indizien für eine Verurteilung aus – oder ist er womöglich unschuldig?
Sicher ist, dass ein Herr am 15. Februar gegen 14 Uhr eine Postfiliale in Ulm betritt. Die unscharfen Aufnahmen der Überwachungskamera zeigen einen Mann mit weißem Schal und einem Muster darauf, dunkler Schiebermütze und einer FFP-2-Maske. Der Vermummte legt drei Pakete mit explosivem Inhalt auf den Tisch, aufgegeben an den Eppelheimer Capri-Sun-Hersteller Wild, den Discounter Lidl in Neckarsulm und den Babynahrungsproduzenten Hipp im oberbayerischen Pfaffenhofen. Absender sind „Maria Schwarz“, „Doris Merkel“und „Christine Müller“. Sie wohnen angeblich in Studentenwohnheimen in München, Ulm und Augsburg. Die Ermittler finden später heraus: Die Frauen existieren gar nicht.
An den beiden Folgetagen detonieren die Sendungen bei Wild und Lidl, insgesamt vier Angestellte verletzen sich. Das dritte Paket kann in einem Paketverteilungszentrum am Flughafen München abgefangen und entschärft werden. Als Sprengstoff soll dem Täter eine Masse gedient haben, die er durch Abschaben von Zündholzköpfen gewann. Keine der Sendungen enthält ein Erpressungsschreiben oder eine Forderung – dafür entdecken Polizisten, als sie das Haus des Angeklagten durchsuchen, 13 Zentralfeuerkartuschen mit unterschiedlichem Kaliber sowie zwei Zentralfeuerpatronen, wie Oberstaatsanwalt LarsJörgen Geburtig verliest. Der Ankläger wirft dem 66-Jährigen das Herbeiführen von Sprengstoffexplosionen sowie gefährliche und versuchte schwere Körperverletzung vor. Er habe in Kauf genommen, dass Menschen Gliedmaßen,
Sehvermögen und Gehör verlieren. Es drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft.
Der Ulmer widerspricht vehement und verliest eine Erklärung im Stakkatostil mit vielen Ich-Botschaften. „Ich bin nicht die von Ihnen gesuchte Person“, „Ich habe niemals in meinem Leben irgendjemandem etwas zuleide getan“, „Ich habe nie diesen Schal, diese Brille und die Mütze, die auf dem Video zu sehen sind, besessen“, „Ich bin unschuldig und hoffe auf Gerechtigkeit“oder „Ich bin zur fraglichen Zeit zu Hause gewesen“.
Abschließend attackiert der Angeklagte die Behörden. Er fände es grausam, wie die deutsche Justiz versuche, „mit viel Aufwand und Energie mein Leben zu zerstören“. Punkt. Das muss reichen, der Rentner lässt keine Rückfragen zu und will sich während des gesamten Verfahrens nicht mehr äußern.
Im Dunkeln liegt, was ihn zu den Anschlägen getrieben haben könnte. In seiner Biografie findet sich nicht mal ein Ansatz für ein Motiv. Geboren in Ulm, Realschulabschluss, Elektroinstallateur bei einem großen Fahrzeughersteller gelernt und der Firma bis zum Ruhestand vor drei Jahren treu geblieben, ein eigenes Reihenhaus im Stadtteil Wiblingen. Eine klassisch-schwäbische Schaffe-schaffe-Häusle-Biografie. Der Mann engagiert sich aber auch ehrenamtlich – für behinderte Menschen und Bootsflüchtlinge aus Vietnam, unter denen sich seine spätere Frau befand. „Wir haben großes Vertrauen zueinander“, schildert er die Beziehung. Die gesamte Persönlichkeit ihres Mandanten passe nicht zu der eines kaltblütigen Erpressers, sind die Verteidiger Steffen Lindberg und Jörg Becker überzeugt.
„Unser Mandant hätte nie vor Gericht gestellt werden dürfen“, bilanziert Lindberg nüchtern. Es existieren jedoch auch Ermittlungsansätze, die für den Rentner als Täter sprechen könnten. So kann niemand bezeugen, dass er sich am 15. Februar in seinem Haus aufgehalten hat. Verdächtig sind aus Sicht der Fahnder zudem die in der Wohnung entdeckten Packsets und Adressetiketten – die gleichen, die auf den Paketen klebten.
Als ob es ihn gar nichts angehen würde, starrt der Mann unentwegt auf den Tisch der Anklagebank, als das Gericht den ersten Zeugen hört. Der Logistikarbeiter in der Poststelle der Wild-Werke braucht eine Weile, bis er sprechen kann und fängt zu weinen an. „Da war die Hölle los“, sagt der 44-Jährige leise und wischt sich die Tränen aus den Augen. Zum Verhängnis wurde ihm ein Päckchen, so groß etwa wie eine Büchersendung. Es war nur allgemein an das Unternehmen adressiert. Er habe es deshalb – wie immer in solchen Fällen – öffnen wollen, um der Rechnung oder dem Lieferschein die richtige Abteilung zu entnehmen, erklärt der Mann. Dann passierte es. „Ich habe gedacht, ich fliege 20 Meter hoch – alles war schwarz vor Rauch“, erinnert sich der Schwetzinger.
Noch heute ist er gezeichnet von den Folgen der Paketbombe, geht zum Psychologen, bekommt Medikamente. Er berichtet von einer Panikattacke, Rauschen im Ohr, Schwindel. Obwohl ihm sein Arbeitgeber einen anderen Posten angeboten habe, arbeite er seit Mitte Mai wieder in der Poststelle. „Ich liebe diesen Platz, ich will ihn behalten“, sagt der Angestellte. „Aber es ist alles nicht so einfach für mich.“
Für den Prozess sind elf weitere Verhandlungstage bis Mitte November angesetzt.