Wie ein jüdisches Textilunternehmen arisiert wurde
Die Familien Kahn und Arnold verloren ihre Firma, wurden antisemitisch verfolgt, vertrieben oder ermordet. Viele Jahrzehnte erinnerte nichts daran. Eine Stele erzählt nun eine lang vergessene Geschichte
Das Haus „Sieben Eichen“in Holzhausen am Ammersee muss einmal ein wunderbarer Erholungsort gewesen sein. Das kann man sich an sonnigen Tagen gut vorstellen. Der Wind raschelt durch die Blätter der Bäume, die Grillen zirpen, ab und an fährt die Regionalbahn vorbei. Ansonsten herrscht Ruhe. Vom Grundstück aus öffnet sich der Blick den Rasen hinunter auf den See, nach Osten, nach Andechs. Unten am Ufer steht ein altes hölzernes Bootshaus – ein stummer Zeuge leidvoller Tage.
Ein Foto von einem Bootsausflug zeigt, wie unbeschwert Familie Arnold mit Freunden und Verwandten hier Zeit verbrachte. Drei Kinder winken aus dem Motorboot, hinter ihnen weht die Augsburger Fahne. Anna und Benno Arnold wollten an diesem Ort aber nicht nur die Ferien verbringen. Die einstigen Besitzer von „Sieben Eichen“hofften, hier der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen. Doch sie wurden all ihres Besitzes beraubt, ermordet – und schließlich fast vergessen.
An das Schicksal von Benno und Anna Arnold und ihren Familien erinnert seit Juli 2021 eine Stele vor dem Gelände der Bayerischen Verwaltungsschule, die heute auch das Gelände von „Sieben Eichen“besitzt. Die Stele steht nur wenige Meter entfernt von einem Straßenschild, das seit Jahresanfang den Platz als „Anna-und-Benno-Arnold-Platz“ausweist. Die Stele erzählt eine lang vergessene Geschichte. Eine Holzhausener Geschichte, aber auch eine Augsburger. Denn ohne das Unternehmen Kahn & Arnold wäre auch die Geschichte der Augsburger Textilindustrie eine andere. Trotzdem war die Geschichte der Familien lange Zeit nahezu unbekannt. Genauso wie das Unrecht, das den Familien widerfuhr – und das auch nach 1945 noch weiterging.
Albert Arnold, Vater von Benno Arnold, gründete 1869 in Augsburg mit Aron Kahn einen Textilgroßhandel. Bis 1899 wurde daraus ein florierendes Unternehmen, die Spinnerei und Weberei am Sparrenlech Kahn & Arnold. Das Unternehmen überstand den Ersten Weltkrieg und blieb in den 1920er-Jahren erfolgreich. Anders die Neue Augsburger Kattunfabrik (NAK): Als diesem Traditionsbetrieb 1923 die Insolvenz drohte, übernahm die zweite Generation von Kahn & Arnold die Aktienmehrheit – die Rettung für die NAK. Als Mehrheitseigner prägten Kahn & Arnold von da an den Textilriesen. Und als Unternehmer auch die Stadt.
Das betont Karl Borromäus Murr, Leiter des Staatlichen Textilund Industriemuseums Augsburg. „Der Beitrag von Unternehmerfamilien, die jüdischer Abstammung waren, war in Augsburg bedeutsam.“Kahn und Arnold seien nur ein Beispiel davon. „Das waren Unternehmer, die eben im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begonnen haben, in die Textilindustrie einzusteigen, von Textilhändlern und Baumwollhändlern herkommend. Und die haben die Erfolgsgeschichte dieser Stadt mitgeprägt.“
Ab 1933 erlebten die Unternehmerfamilien die antisemitische Ausgrenzung im NS-Staat, Familienmitglieder erlebten Schikanen und Verhaftungen. Per Verordnung erzwang der NS-Staatsapparat 1938 schließlich das „Ausscheiden der Juden aus dem Wirtschaftsleben“– die Inhaber mussten ihr Unternehmen sowie die NAK-Aktien unter Druck deutlich unter Wert verkaufen. Das Geld erhielten sie allerdings nicht. Es floss in unerreichbare Sperrkonten, auf die sie nicht zugreifen konnten. Die Spinnerei und Weberei am Sparrenlech, deren Besitzer die NAK gerettet hatten, wurde nun zum NAK-Zweigwerk. Darüber berichtet auch die unfreie Presse des Dritten Reichs am 13. Juli 1938. Die Handels- und Wirtschafts-Zeitung der Neuen Augsburger Zeitung gibt dazu Aussagen des damaligen NAKAufsichtsratsvorsitzenden wieder, wonach „die Wiedervereinigung der Betriebe auch im Interesse der Stadt Augsburg und ihrer Wirtschaft liege und dass der Zusammenschluss bei den zuständigen Behörden und Parteistellen vollstes Verständnis gefunden habe“. Viele, vor allem jüngere Mitglieder der Familien Kahn und Arnold waren zu diesem Zeitpunkt schon vor der Verfolgung durch den NS-Staat geflohen. Benno und Anna Arnold und weitere Familienmitglieder blieben jedoch in Deutschland. Als das Ehepaar sich zur Emigration entschloss, war es bereits zu spät. Zunächst zogen sich Anna und Benno Arnold nach Holzhausen zurück. Seit 1925 besaßen sie das Anwesen. Aus Briefen von Benno Arnold spricht die Hoffnung, dort alt werden zu können. Doch noch im selben Jahr, kurz vor Weihnachten 1938, nahmen sich die Nationalsozialisten auch diesen Besitz. Den antisemitisch verfolgten Familien blieb weder eine wirtschaftliche noch eine private Existenz. Benno und Anna Arnold lebten bis 1942 in Augsburg und wurden dann ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Anna Arnold starb dort wenige Wochen später im Alter von 59 Jahren, Benno Arnold schließlich 1944 mit 67 Jahren. Auch Benno Arnolds Schwestern Luise Ellinger und Emilie Dessauer sowie sein Schwager Julius Dessauer wurden in Theresienstadt ermordet. Benno Arnolds Bruder Arthur starb 1941 im KZ Dachau, vermutlich als Opfer eines Medizinversuchs.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Überlebenden der Familien Kahn und Arnold über die ganze
verstreut. Die Erbengemeinschaft bemüht sich um eine Entschädigung, stößt in Augsburg aber auf Widerstände. Denn zu diesem Zeitpunkt haben bei der Neuen Augsburger Kattunfabrik immer noch einige Personen das Sagen, die 1938 die Führung des Unternehmens übernommen haben. Diese Personen scheinen ein Ziel vor Augen zu haben: möglichst wenig an die Erben zurückzugeben.
Dies zeigt ein Dokument aus dem Staatlichen Textil- und Industriemuseum (TIM) in Augsburg. Demnach versuchten die Führungskräfte, die Entschädigung möglichst gering zu halten. Oberste Priorität: Die ursprünglichen Eigentümer – Augsburger Familien, die die NSDiktatur in die Emigration getrieben hatte – sollten das Unternehmen und die Aktien nicht zurückerhalten. Eine Aktennotiz gibt Einblick in die Strategie, die die NAK-Führung nutzte: So sollte der Entschädigungsprozess möglichst schnell abgeschlossen sein. Zunächst wird damit argumentiert, dass eine unklare Eigentumssituation den Wiederaufbau belastet hätte. Jedoch wird der Verfasser der Aktennotiz später deutlich: So sollte der Entschädigungsprozess abgeschlossen sein, ehe die Erbengemeinschaft erfuhr, wie viel das Unternehmen wert war. Diesen Wert schätzten die Erben bis dahin nämlich geringer ein, als es der Fall war. Um das NAK-Angebot der Erbengemeinschaft „schmackhaft zu machen“, sei man bei der Höhe des geforderten Betrags also auf die Familien zugegangen.
Der Plan ging auf, die Erben erhielten weder den Betrieb noch die Aktienmehrheit zurück, lediglich eine Geldsumme – und die lag deutlich unter dem Unternehmenswert von 1938. „Eine zweite Arisierung“, wie es Karl Borromäus Murr, Chef des Textil- und Industriemuseums in Augsburg, nennt. Für die Überlebenden war es ein schwieriger Prozess. Denn wie Murr erklärt, seien die Überlebenden nach ihrer Flucht auf die Summen aus der Wiedergutmachung angewiesen gewesen. Und die Beweislast habe wie in solchen Verfahren üblich bei ihnen gelegen. Doch aus dem Ausland sei Beweismaterial schwer zu besorgen gewesen. „Und oft mauerten auch die Ariseure, die die Firmen übernommen hatten, und versuchten, einen Einfluss der alten Inhaber zurückzudrängen oder auszusperren.“So offenbar auch bei der NAK.
Die Nutznießer solcher ArisieWelt rungen wurden oft ihr Leben lang nicht belangt. Auch in Augsburg nicht. Im Gegenteil: Einige galten als angesehene Bürger und bedeutende wirtschaftliche Akteure. Ihre unternehmerischen Leistungen wurden noch lang öffentlich gewürdigt. An die Namen Kahn und Arnold und ihre Familiengeschichte hingegen erinnerten sich bald nur noch wenige in Augsburg.
„Bis in die 2000er habe ich kein Wort dazu in Augsburg gefunden“, sagt Elisabeth Kahn, Großnichte von Benno Arnold. Sie, die mit einem Verein selbst seit vielen Jahren in der Erinnerungs- und Bildungsarbeit aktiv ist, erinnert sich an die frühere Situation in Augsburg: „Ich war völlig verzweifelt, denn es gab nichts außer den Grabsteinen.“
Dass Erinnerungen im öffentlichen Bewusstsein fehlen, ist nicht nur bei diesen Familien der Fall. Einst gab es viele jüdische Unternehmen in Augsburg, wie Yehuda Shenef vom Jüdischen Historischen Verein sagt. Shenef weiß allein von über 500 jüdischen Geschäften in Augsburg, von Kaufhäusern, von kleineren Produktionsorten in Stadthäusern bis hin zu den großen Fabriken. Auch die „kleinen Leute“habe es in Augsburg gegeben, jüdische Bedienstete, Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen, Angestellte und Arbeitskräfte in den Fabriken. Shenef erlebt aber, dass an viele dieser Menschen bis heute kaum etwas erinnere. Gerade nicht an diejenigen, die überlebt hätten.
Bei der Erinnerungsarbeit in Deutschland stört Shenef, dass Opfer anonym blieben. Zwar seien auch die Namen der Täter in Augsburg
bis heute „tabu“. Die Namen der NS-Führer wie Hitler oder Goebbels seien aber bekannt. Anders sei das bei den Opfern: „Die Juden von damals sind eine anonyme Masse. Und vor Ort umso mehr.“Die Arbeit des Jüdischen Historischen Vereins gehe deshalb in die Gegenrichtung. Shenef trägt Erinnerungen an jüdische Menschen aus Augsburg zusammen. Der Verein erinnert an sie in Vorträgen und Führungen sowie mit Büchern.
Mit der Erinnerung an die Lebensgeschichten der antisemitisch Verfolgten hat sich nicht nur Augsburg lange schwergetan. Barbara Staudinger, Leiterin des Jüdischen Museums Augsburg-Schwaben, sieht darin ein allgemeines Phänomen. Eine Besonderheit war in Augsburg für Staudinger aber Gernot Römer, der langjährige Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen. Lange bevor dies üblich gewesen sei, habe Römer in den 1970er-Jahren sich mit dem Schicksal jüdischer Verfolgter beschäftigt. Sein Archiv soll laut Staudinger digitalisiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Heute sei das wichtig, weil es in Augsburg eine jüdische Gemeinde gebe. Und weil es in Deutschland und auch in Augsburg Antisemitismus, Fremdenhass und Rassismus gebe. Ab Dezember zeigt das Museum in Kriegshaber die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft“, die danach fragt, wie Erinnerungskultur ohne Zeitzeugenschaft weitergehen kann.
Als das Ehepaar sich zur Emigration entschloss, war es bereits zu spät
Die Erben erhielten weder den Betrieb noch die Aktienmehrheit zurück
Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Der Stoff, aus dem die Stadt gemacht ist“, das in Kooperation mit der Deutschen Journalistenschule München entstand. Weitere Geschichten zur Augsburger Textilindustrie finden Sie hier:
www.textilesaugsburg.de