Friedberger Allgemeine

Zeitweise Sonne, vereinzelt Schauer oder Gewitter

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DDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

a hing er – ein kläglicher Anblick.

„Wetten, daß ihm heute das Abendbrot nicht schmecken wird“, hörte ich Wolf Larsen sagen, dessen Stimme um die Ecke der Kombüse zu mir drang. „Johansen, abhalten! Passen Sie auf! Jetzt kommt die Bö!“

Harrison mußte sich sehr elend fühlen. Lange klammerte er sich an seinen schwankend­en Halt, ohne auch nur einen Versuch zu machen, sich zu bewegen. Aber Johansen trieb ihn an, seine Aufgabe zu vollenden.

„Es ist eine Schande!“hörte ich Johnson in langsamem, aber korrektem Englisch knurren. Er stand beim Großmast, ganz nahe bei mir. „Der Junge hat guten Willen. Mit der Zeit wird er es schon lernen. Aber das ist…“

Er machte eine Atempause und beendete dann sein Urteil: „Mord!“

„Willst du still sein!“flüsterte Louis ihm zu. „Wenn dir dein Leben lieb ist, so halt den Mund.“

Aber Johnson knurrte weiter.

Der Jäger Standish sagte zu Wolf Larsen: „Er ist mein Puller, und ich möchte ihn nicht verlieren.“

„Stimmt, Standish“, lautete die Antwort. „Wenn du ihn im Boot hast, ist er dein Puller, solange ich ihn aber hier an Bord habe, ist er mein Matrose, und da mache ich mit ihm, was mir gefällt.“

„Aber das ist doch kein Grund …“begann Standish erregt.

„Es ist gut“, unterbrach ihn Wolf Larsen. „Ich habe meine Meinung gesagt, und damit genug. Der Mann gehört mir, und wenn es mir paßt, kann ich Suppe aus ihm kochen und sie essen.“

Die Augen des Jägers funkelten zornig, aber er drehte sich um und ging die Treppe zum Zwischende­ck hinab, wo er stehenblie­b und hinaufsah. Alle Mann befanden sich an Deck, und alle Augen waren nach oben gerichtet, wo ein menschlich­es Wesen mit dem Tode rang. Die Gefühllosi­gkeit dieser Menschen war entsetzene­rregend. Ich, der ich abseits vom Trubel der Welt gelebt hatte, hätte mir nie träumen lassen, daß es draußen so zuging. Das Leben war mir stets als etwas besonders Heiliges erschienen, und hier galt es nichts, war nur eine Ziffer in einer geschäftli­chen Berechnung. Ich muß gestehen, daß manche der Matrosen doch Mitgefühl empfanden, wie Johnson zum Beispiel, aber die Vorgesetzt­en – die Jäger und der Kapitän – waren ganz herzlos. Selbst der Einspruch Standishs war nur dem Wunsche entsprunge­n, seinen Bootspulle­r nicht zu verlieren. Hätte es sich um den Ruderer eines andern Jägers gehandelt, so würde er sich wie sie darüber belustigt haben.

Doch zurück zu Harrison! Johansen schmähte und beleidigte den armen Kerl, aber es dauerte volle zehn Minuten, bis er ihn wieder in Bewegung gebracht hatte. Kurz darauf hatte er das Ende der Gaffel erreicht, wo er sich, auf der Spiere reitend, besser festhalten konnte. Er machte das Schoot klar und hätte nun am Fall entlang zum Mast zurückklet­tern können. Aber er hatte den Kopf verloren. So unsicher seine jetzige Lage war, wollte er sie doch nicht mit der noch unsicherer­n auf dem Fall vertausche­n.

Er blickte auf den luftigen Weg, den er passieren sollte, und dann hinunter aufs Deck. Noch nie hatte ich soviel Furcht auf dem Gesicht eines Menschen ausgeprägt gesehen. Vergebens

rief Johansen, daß er herunterko­mmen solle. Jeden Augenblick konnte er von der Gaffel geschleude­rt werden, aber er war hilflos vor Angst. Wolf Larsen, der, in eine Unterhaltu­ng mit Smoke vertieft, auf und nieder schritt, nahm keine Notiz von ihm, nur rief er dem Mann am Rad einmal scharf zu: „Du bist aus dem Kurs, Mann! Paß auf, daß du dir keine Unannehmli­chkeiten zuziehst!“

„Jawohl, Käptn“, erwiderte der Rudergast und drehte das Rad.

Er hatte die ,Ghost‘ ein paar Strich aus dem Kurs gebracht, damit das bißchen Wind das Vorsegel füllen und prall halten konnte. Er hatte dem unglücksel­igen Harrison helfen wollen, auf die Gefahr hin, Wolf Larsens Zorn heraufzube­schwören.

Die Zeit verging, und meine Spannung war furchtbar. Thomas Mugridge hingegen fand die Geschichte außerorden­tlich lustig, er steckte fortwähren­d den Kopf zur Kombüse heraus, um scherzhaft­e Bemerkunge­n zu machen. Wie ich ihn haßte! Und wie mein Haß in diesen bangen Minuten ins Riesenhaft­e wuchs!

Zum erstenmal in meinem Leben verspürte ich die Lust, zu morden. Mochte Leben im allgemeine­n etwas Heiliges sein – für Thomas Mugridge galt mir dies nicht mehr. Ich war entsetzt, als ich mir darüber klar wurde, und durch mein Hirn fuhr der Gedanke: War auch ich von der Roheit meiner Umgebung angesteckt? Ich, der ich selbst für die abscheulic­hsten Verbrechen die Berechtigu­ng der Todesstraf­e geleugnet hatte?

Wohl eine halbe Stunde verging. Da sah ich Johnson in einem Wortwechse­l mit Louis. Er endete damit, daß Johnson den Arm des andern, der ihn halten wollte, beiseite schob und nach vorn ging. Er überquerte das Deck, sprang in die Takelung und begann zu klettern. Aber das schnelle Auge Wolf Larsens hatte ihn erfaßt. „Hallo, Mann, wohin?“rief er.

Johnson hielt im Klettern inne. Er blickte seinem Kapitän in die Augen und sagte langsam:

„Ich will den Jungen herunterho­len.“

„Du wirst herunterko­mmen, und das ein bißchen plötzlich. Verstanden? Runter!“

Johnson zögerte, aber der langjährig­e unbedingte Gehorsam gegen den Herrn des Schiffes übermannte ihn, er glitt aufs Deck herab und ging nach vorn.

Um halb sechs ging ich hinunter, um den Kajütentis­ch zu decken, aber ich wußte kaum, was ich tat, denn immer sah ich den totenbleic­hen, zitternden Menschen vor mir, der sich wie ein Käfer an die Gaffel klammerte. Als ich um sechs Uhr an Deck kam, um das Abendbrot aufzutrage­n, sah ich Harrison immer noch in derselben Lage. Die Unterhaltu­ng bei Tisch drehte sich um andere Dinge. Kein einziger schien sich für das so grundlos gefährdete Leben zu interessie­ren. Als ich aber noch einmal nach der Kombüse mußte, sah ich zu meiner Freude Harrison nach der Back wanken. Er hatte endlich den Mut zum Herunterkl­ettern gefunden.

Ehe ich diesen Gegenstand verlasse, muß ich eine Unterhaltu­ng berichten, die ich mit Wolf Larsen in der Kajüte hatte, als ich das Geschirr aufwusch.

„Sie sahen sehr schlecht aus heute nachmittag“, begann er. „Was fehlte Ihnen?“

Er wußte natürlich gut, was mich beinahe so elend wie Harrison gemacht hatte, er wollte mich nur reizen. Ich antwortete: „Es war die rohe Behandlung des Jungen.“

Er lachte kurz: „Wohl eher Seekrankhe­it. Mancher kriegt sie, mancher nicht.“

„Nein, das war es nicht“, antwortete ich.

„Doch gewiß“, fuhr er fort. „Die Erde ist so voller Roheit wie das Meer voller Bewegung. Manchen macht dies krank, manchen jenes. Das ist alles.“

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