20 Jahre danach
Wie die Anschläge des 11. September 2001 die Welt bis heute veränderten. Und was wir daraus lernen müssen
New York Andrew Kirtzman erinnert sich gut an jenen Morgen im September 2001. Der Lokalreporter sah es im Fernsehen. Kurz darauf schickte ihn sein Chef zum World Trade Center im Süden Manhattans, er solle Bürgermeister Rudy Giuliani finden. Kirtzman sprang in ein Taxi. Sobald sie in der Nähe der Zwillingstürme waren, schmiss ihn der Fahrer raus: Der Südturm des weltbekannten Hochhauskomplexes war soeben eingestürzt. Weißer Staub hing in der Luft. Ein Polizist schrie: „Runter von der Straße!“Kirtzman wedelte mit seinem Presseausweis. „Ich muss Giuliani finden“, sagte er. „Der ist da drüben“, antwortete der Polizist.
Tatsächlich, ein paar Meter weiter stand er, bedeckt von Staub und Asche. Als er Kirtzman sah, sagte er: „Komm, Andrew, gehen wir!“Dann knallte es, der zweite Turm des World Trade Centers stürzte krachend ein. Die Erde bebte. Und ein Berg aus Rauch erhob sich, schob sich durch die Straßenschluchten. Andrew Kirtzman und Rudy Giuliani rannten um ihr Leben.
Der Bürgermeister, der da rannte, galt nach den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001 als einer der größten Helden, die New York je gesehen hat. Für das, was er damals sagte, und das, was er damals tat, genoss er hohes Ansehen. Heute ist er Verschwörungstheoretiker und vielleicht bald im Gefängnis. Sogar Weggefährten zeigen sich fassungslos. Wie konnte es dazu kommen? Andrew Kirtzman, der auch eine Giuliani-Biografie geschrieben hat, sagt: „Giuliani, sein ganzes Wesen, verlangt nach einem Feind.“
Er hat die Szene über die Jahre immer wieder geschildert: Wie sie beide flüchteten zwischen den Hochhäusern des Finanzdistrikts der USMetropole, weg von dem Ort, an dem inzwischen zwei große viereckige Wasserbecken die Zwillingstürme des World Trade Centers ersetzen. Eine symbolische Leerstelle. Vor 20 Jahren schien hier die Morgensonne in Bürofenster, nun spiegelt sie sich im Wasser und in den Bronzeplatten auf der hüfthohen Mauer um es herum. In die Platten sind die Namen der fast 3000 Opfer eingraviert, abgelegte USA-Flaggen und Blumen schmücken sie.
Giuliani versicherte den Menschen damals, dass New York nicht untergehen würde. Er behielt die Kontrolle, obwohl er selbst Opfer kannte. Mit einem Parteifreund war der Republikaner beim Frühstück gesessen, als das erste Flugzeug in den Nordturm des WTC krachte. Er eilte hin und stand vor den Türmen, als das zweite einschlug. Er lief durch die verwüsteten Straßen, vorbei an Verletzten und Trümmerteilen. Am Vormittag ließ er die Gegend evakuieren, am Nachmittag er: „Die Zahl der Opfer wird höher sein, als jeder von uns ertragen kann.“
Das waren klare und dennoch keine kalten Worte. Rudolph William Louis Giuliani, Staranwalt und seit 1994 Bürgermeister von New York City, wurde für sein Krisenmanagement, sein Mitgefühl und seinen Mut gelobt. Sie nannten ihn den „Bürgermeister von Amerika“. Das Time-Magazin kürte ihn zur „Person des Jahres“.
Der Enkel italienischer Einwanderer hatte es endgültig geschafft. Geboren 1944, wuchs Giuliani in einem weißen Arbeiterviertel in Brooklyn, einem der fünf Stadtbezirke, auf. Berufswunsch: katholischer Priester. Er wurde Jurist, kam in hohe Posten in Washington und wurde bekannt durch seine scharfen Kreuzverhöre. Von 1983 bis 1989 arbeitete er als Staatsanwalt in New York. Dann kandidierte er als Bürgermeister und verlor gegen David Dinkins, den ersten schwarzen Bürgermeister der Millionenstadt. 1993 schlug er ihn im zweiten Anlauf.
Hatte er in den 80ern Mafiosi vor Gericht gebracht, verfolgte er in den 90ern Kriminelle. New York, ein Moloch mit 2245 Mordopfern im Jahr 1990, sollte sicherer werden. Giuliani verlange nach einem Feind? Hier hatte er nicht nur einen. Die Gewalt, die Drogen, die Prostitution, die Korruption. Er ging unerbittlich dagegen vor, null Toleranz, und hatte Erfolg. Das Image von New York verbesserte sich spürbar.
Der 11. September 2001 brachte ihm einen neuen Feind – den Terror. Rund um die Uhr hielt Giuliani die Stellung in „seiner“Stadt. Einer Stadt, über der ein beißender Geruch hing, der in Wohnungen und U-Bahn-Tunnel zog. Besonders schlimm war es am „Ground Zero“, der Stelle, an der das World Trade Center einst weit in den Himmel emporragte.
„Es roch nach altem, verfaultem Hühnchen, das tagelang in der Sonne lag“, sagt Mario Valenti. Der Ingenieur war eine Woche nach den Anschlägen vor Ort. „Man konnte tote Körper riechen. Man konnte sie nicht sehen, aber riechen.“Wie das Kerosin der Flugzeuge, die zu Terrorwaffen umfunktioniert worden waren, und das immer noch brannte. Vor Ort war auch Bürgermeister Rudy Giuliani, der mit anpackte und die Einsatzkräfte unterstütze. Als Mario Valenti heimkam, zwang ihn seine Frau, seine Klamotten zu wechseln. Sie hielt den Gestank nicht aus. Seine Kinder auch nicht. „Mein damals siebenjähriger Sohn hat sich eine Zeit lang jedes Mal übergeben, wenn er Sirenen hörte“, erzählt er. So sachlich wie möglich.
Valenti kehrte freiwillig zum World Trade Center zurück. Monatelang. Weil er wütend und traurig war. Und weil der Bürgermeister alle motivierte. „Er hat einen guten Job gemacht“, sagt er. „Jeder wollte, dass er eine dritte Amtszeit anhängt.“Das aber ging gesetzlich nicht, und so stand im September 2001 das Ende von Giulianis Zeit als Bürgermeister kurz bevor. Der strebte ohnehin nach Höherem: einer Präsidentschaftskandidatur.
Umso tiefer sein Fall. 20 Jahre nachdem er auf dem Höhepunkt seiBeliebtheit war, ist Giuliani mittlerweile für viele zu einer Witzfigur geworden, bekannt für bizarre Auftritte. Vor kurzem erst rasierte er sich am Tisch eines FlughafenRestaurants. Unvergessen – und unvergessen peinlich – seine Pressekonferenz als Anwalt des heftig umstrittenen US-Präsidenten Donald Trump im November 2020 vor der Landschaftsgärtnerei „Four Seasons“statt im gleichnamigen Lusagte xushotel. Ebenfalls brachte ihm weltweit Spott ein, dass ihm vor Publikum Haarfarbe übers Gesicht lief. Oder dass er sich in einem Film mit versteckter Kamera vor einer jungen Frau in die Hose griff.
„Vielleicht hat Giuliani den Verstand verloren“, mutmaßt Mario Valenti. Einst schlagkräftig, heute verletzlich, alt und senil, so empfindet der 61-Jährige ihn. Es ist für Valenti schwierig, die Bilder zusamner menzubringen. Die aus den vergangenen Jahren und die aus den 90ern. Jene also eines tatkräftigen Machers, der aus einer kriminellen und dreckigen Stadt eine machte, in der die Menschen wieder in U-Bahnen steigen konnten, die nicht mit Graffitis besprüht waren und stanken. Der die Kriminalitätsrate massiv senkte.
Als Rudy Giuliani sein Bürgermeisteramt antrat – als erster Republikaner seit 24 Jahren –, gab es am Times Square Sex-Shops, Drogendealer und Porno-Kinos. Heute besuchen Familien dort das „König der Löwen“-Musical. Im vergangenen Jahr, als die Corona-Pandemie New York lähmte und die Kriminalität wieder zunahm, hörte man allerorten: Wir brauchen einen wie Giuliani, der für Ordnung sorgt. Das ist sein Erbe.
„Aber auch unseres“, sagt Ken Frydman, der 1993 Pressesprecher in Giulianis Wahlkampfteam war. Eigentlich will der Leiter einer Agentur für strategische Kommunikation nicht mehr über ihn sprechen. Zu oft wurde er nach ihm gefragt. Dennoch hat er eingewilligt, sich auf einen Kaffee zu treffen. Frydman, groß, graue Haare, Brille, ist etwas müde. Er wurde kurz zuvor für eine Giuliani-TV-Doku interviewt. Damals, in den 90ern, war er Mitte 30 und wollte, dass die Stadt sauberer und sicherer wird. Wie Giuliani.
Der jedoch machte sich in seiner zweiten Amtszeit unbeliebt. Fehlten ihm die Feinde, nachdem New York sauberer und sicherer war? Giuliani begann, gegen alles und jeden vorzugehen: Fußgänger, Würstchenverkäufer, Taxifahrer, Afroamerikaner. Zu Letzteren hatte er keinen guten Draht, und hatte er nicht 1989 gegen einen Schwarzen verloren? Hinzu kam eine Welle an Polizeigewalt gegen Schwarze, eine Affäre und die Trennung von seiner zweiten Frau – schön für die Klatschpresse und eine gewisse Hillary Clinton, gegen die er im Jahr 2000 im Rennen um den New Yorker Senatsposten in Washington antrat. Die Kandidatur zog er zurück, nachdem bei ihm Prostatakrebs diagnostiziert worden war.
Dann kam der 11. September, Giuliani war wieder beliebt. Nur, was machte er daraus? Laut Ken Frydman verlangte er 100000 Dollar für Reden über seine heldenhafte Führung und habe jedem „reichen Schurken und Westentaschendiktator“als Berater geholfen. Giuliani wurde zum Multimillionär. Frydman widert das an. Der Giuliani von Anfang der 90er, an den er sich gerne erinnert, trank Cola und aß Pizza. Und zahlte alles selbst – sogar ein Frühstück im Plaza Hotel während seines Wahlkampfes 1993, das ihm der damalige Hotelbesitzer Donald Trump ausgeben wollte. Das wiederum erzählte Giulianis Ex-Beraterin Liz Bruder der Zeitschrift Rolling Stone. Sie wurde 1994 Frydmans Frau, getraut im Rathaus von Giuliani persönlich. Frydman zieht ein Foto davon aus seinem Geldbeutel und betrachtet es nachdenklich. „Was aus Giuliani geworden ist“, sagt er, „bricht mir das Herz.“
2008 wollte der US-Präsident werden, scheiterte aber in den Vorwahlen. Er war für die Rechte von
Schwulen, für Abtreibung und schärfere Waffengesetze. Zu liberal für die Republikaner. Sein HeldenImage zog nicht mehr. Der erfolglose Wahlkampf wirkte sich auf seine Geschäfte aus. Sein Ego litt, sein Geldbeutel litt.
In Donald Trump sah er seine Chance auf ein Comeback. Rudy Giuliani unterstützte 2016 dessen Präsidentschaftskandidatur, im Gegenzug wollte er Außenminister werden. Auch daraus wurde nichts. 2018 wurde er zu Trumps Rechtsberater, später zu seinem persönlichen Anwalt. Er kämpfte für ihn, als Ermittler Robert Mueller die russische Einflussnahme auf den Wahlkampf 2016 und Trumps Sieg untersuchte. Später versuchte er, die Ukraine zu Ermittlungen gegen Trumps Herausforderer von 2020, Joe Biden, zu bewegen – was zu Trumps erstem Amtsenthebungsverfahren führte. Nach der Wahl ging er rechtlich gegen Bidens Sieg vor, gegen angeblichen Wahlbetrug und manipulierte Maschinen zum Stimmenauszählen. Belegen konnte er nichts. Trumps Anwälte klagten erfolglos. Giuliani dagegen hat jetzt die Verleumdungsklage eines Wahlmaschinen-Herstellers am Hals.
Im April wurden seine Wohnund Büroräume als Teil der Ermittlungen gegen ihn in der Ukraine-Affäre durchsucht – vom Büro des Bundesstaatsanwalts in Manhattan, das er einst leitete. Im Juni verlor er seine Anwaltslizenz in New York, da er laut Gericht als Trumps Anwalt „falsche und irreführende Aussagen“gemacht habe, um das Wahlergebnis 2020 zu kippen. Zudem
„Er hat damals einen guten Job gemacht.“
Mario Valenti
„Was aus ihm ge worden ist, bricht mir das Herz.“
Ken Frydman
hätten seine Äußerungen die Spannungen in den USA vor dem Sturm auf das Kapitol angeheizt.
Den nannte Giuliani in einem Interview mit dem Sender NBC kürzlich beschwichtigend einen „Hausfriedensbruch“. „Wenn Sie denken, dass ich ein Verbrechen begangen habe, sind Sie vermutlich wirklich dumm, weil Sie nicht wissen, wer ich bin“, sagte er. Er habe nichts falsch gemacht. Alles Lügner und Betrüger, sollen sie ihn doch unschuldig ins Gefängnis stecken! Ein altes Zitat von ihm kommt einem da in den Sinn. Nach dem Ende seiner Amtszeit 2002 hatte der Spiegel von Giuliani wissen wollen, ob ein New Yorker Bürgermeister denn mal US-Präsident geworden sei. Giuliani antwortete: „Die Bürgermeister wurden später höchstens TalkshowModeratoren. Ich glaube, als Bürgermeister von New York bist du am Ende froh, wenn du nicht im Knast landest.“
Eine Talkshow hat Giuliani: einen Podcast, ein Audioformat also, genannt „Common Sense“. Gesunder Menschenverstand. In dem attackiert er den demokratischen USPräsidenten Biden. Auch auf Cameo ist er, einer Plattform, auf der C-Promis ihren Fans Videobotschaften schicken. Für 400 Dollar nimmt er Geburtstagsgrüße auf.