Friedberger Allgemeine

20 Jahre danach

Wie die Anschläge des 11. September 2001 die Welt bis heute veränderte­n. Und was wir daraus lernen müssen

- VON STEPHANIE LORENZ

New York Andrew Kirtzman erinnert sich gut an jenen Morgen im September 2001. Der Lokalrepor­ter sah es im Fernsehen. Kurz darauf schickte ihn sein Chef zum World Trade Center im Süden Manhattans, er solle Bürgermeis­ter Rudy Giuliani finden. Kirtzman sprang in ein Taxi. Sobald sie in der Nähe der Zwillingst­ürme waren, schmiss ihn der Fahrer raus: Der Südturm des weltbekann­ten Hochhausko­mplexes war soeben eingestürz­t. Weißer Staub hing in der Luft. Ein Polizist schrie: „Runter von der Straße!“Kirtzman wedelte mit seinem Presseausw­eis. „Ich muss Giuliani finden“, sagte er. „Der ist da drüben“, antwortete der Polizist.

Tatsächlic­h, ein paar Meter weiter stand er, bedeckt von Staub und Asche. Als er Kirtzman sah, sagte er: „Komm, Andrew, gehen wir!“Dann knallte es, der zweite Turm des World Trade Centers stürzte krachend ein. Die Erde bebte. Und ein Berg aus Rauch erhob sich, schob sich durch die Straßensch­luchten. Andrew Kirtzman und Rudy Giuliani rannten um ihr Leben.

Der Bürgermeis­ter, der da rannte, galt nach den islamistis­chen Terroransc­hlägen vom 11. September 2001 als einer der größten Helden, die New York je gesehen hat. Für das, was er damals sagte, und das, was er damals tat, genoss er hohes Ansehen. Heute ist er Verschwöru­ngstheoret­iker und vielleicht bald im Gefängnis. Sogar Weggefährt­en zeigen sich fassungslo­s. Wie konnte es dazu kommen? Andrew Kirtzman, der auch eine Giuliani-Biografie geschriebe­n hat, sagt: „Giuliani, sein ganzes Wesen, verlangt nach einem Feind.“

Er hat die Szene über die Jahre immer wieder geschilder­t: Wie sie beide flüchteten zwischen den Hochhäuser­n des Finanzdist­rikts der USMetropol­e, weg von dem Ort, an dem inzwischen zwei große viereckige Wasserbeck­en die Zwillingst­ürme des World Trade Centers ersetzen. Eine symbolisch­e Leerstelle. Vor 20 Jahren schien hier die Morgensonn­e in Bürofenste­r, nun spiegelt sie sich im Wasser und in den Bronzeplat­ten auf der hüfthohen Mauer um es herum. In die Platten sind die Namen der fast 3000 Opfer eingravier­t, abgelegte USA-Flaggen und Blumen schmücken sie.

Giuliani versichert­e den Menschen damals, dass New York nicht untergehen würde. Er behielt die Kontrolle, obwohl er selbst Opfer kannte. Mit einem Parteifreu­nd war der Republikan­er beim Frühstück gesessen, als das erste Flugzeug in den Nordturm des WTC krachte. Er eilte hin und stand vor den Türmen, als das zweite einschlug. Er lief durch die verwüstete­n Straßen, vorbei an Verletzten und Trümmertei­len. Am Vormittag ließ er die Gegend evakuieren, am Nachmittag er: „Die Zahl der Opfer wird höher sein, als jeder von uns ertragen kann.“

Das waren klare und dennoch keine kalten Worte. Rudolph William Louis Giuliani, Staranwalt und seit 1994 Bürgermeis­ter von New York City, wurde für sein Krisenmana­gement, sein Mitgefühl und seinen Mut gelobt. Sie nannten ihn den „Bürgermeis­ter von Amerika“. Das Time-Magazin kürte ihn zur „Person des Jahres“.

Der Enkel italienisc­her Einwandere­r hatte es endgültig geschafft. Geboren 1944, wuchs Giuliani in einem weißen Arbeitervi­ertel in Brooklyn, einem der fünf Stadtbezir­ke, auf. Berufswuns­ch: katholisch­er Priester. Er wurde Jurist, kam in hohe Posten in Washington und wurde bekannt durch seine scharfen Kreuzverhö­re. Von 1983 bis 1989 arbeitete er als Staatsanwa­lt in New York. Dann kandidiert­e er als Bürgermeis­ter und verlor gegen David Dinkins, den ersten schwarzen Bürgermeis­ter der Millionens­tadt. 1993 schlug er ihn im zweiten Anlauf.

Hatte er in den 80ern Mafiosi vor Gericht gebracht, verfolgte er in den 90ern Kriminelle. New York, ein Moloch mit 2245 Mordopfern im Jahr 1990, sollte sicherer werden. Giuliani verlange nach einem Feind? Hier hatte er nicht nur einen. Die Gewalt, die Drogen, die Prostituti­on, die Korruption. Er ging unerbittli­ch dagegen vor, null Toleranz, und hatte Erfolg. Das Image von New York verbessert­e sich spürbar.

Der 11. September 2001 brachte ihm einen neuen Feind – den Terror. Rund um die Uhr hielt Giuliani die Stellung in „seiner“Stadt. Einer Stadt, über der ein beißender Geruch hing, der in Wohnungen und U-Bahn-Tunnel zog. Besonders schlimm war es am „Ground Zero“, der Stelle, an der das World Trade Center einst weit in den Himmel emporragte.

„Es roch nach altem, verfaultem Hühnchen, das tagelang in der Sonne lag“, sagt Mario Valenti. Der Ingenieur war eine Woche nach den Anschlägen vor Ort. „Man konnte tote Körper riechen. Man konnte sie nicht sehen, aber riechen.“Wie das Kerosin der Flugzeuge, die zu Terrorwaff­en umfunktion­iert worden waren, und das immer noch brannte. Vor Ort war auch Bürgermeis­ter Rudy Giuliani, der mit anpackte und die Einsatzkrä­fte unterstütz­e. Als Mario Valenti heimkam, zwang ihn seine Frau, seine Klamotten zu wechseln. Sie hielt den Gestank nicht aus. Seine Kinder auch nicht. „Mein damals siebenjähr­iger Sohn hat sich eine Zeit lang jedes Mal übergeben, wenn er Sirenen hörte“, erzählt er. So sachlich wie möglich.

Valenti kehrte freiwillig zum World Trade Center zurück. Monatelang. Weil er wütend und traurig war. Und weil der Bürgermeis­ter alle motivierte. „Er hat einen guten Job gemacht“, sagt er. „Jeder wollte, dass er eine dritte Amtszeit anhängt.“Das aber ging gesetzlich nicht, und so stand im September 2001 das Ende von Giulianis Zeit als Bürgermeis­ter kurz bevor. Der strebte ohnehin nach Höherem: einer Präsidents­chaftskand­idatur.

Umso tiefer sein Fall. 20 Jahre nachdem er auf dem Höhepunkt seiBeliebt­heit war, ist Giuliani mittlerwei­le für viele zu einer Witzfigur geworden, bekannt für bizarre Auftritte. Vor kurzem erst rasierte er sich am Tisch eines FlughafenR­estaurants. Unvergesse­n – und unvergesse­n peinlich – seine Pressekonf­erenz als Anwalt des heftig umstritten­en US-Präsidente­n Donald Trump im November 2020 vor der Landschaft­sgärtnerei „Four Seasons“statt im gleichnami­gen Lusagte xushotel. Ebenfalls brachte ihm weltweit Spott ein, dass ihm vor Publikum Haarfarbe übers Gesicht lief. Oder dass er sich in einem Film mit versteckte­r Kamera vor einer jungen Frau in die Hose griff.

„Vielleicht hat Giuliani den Verstand verloren“, mutmaßt Mario Valenti. Einst schlagkräf­tig, heute verletzlic­h, alt und senil, so empfindet der 61-Jährige ihn. Es ist für Valenti schwierig, die Bilder zusamner menzubring­en. Die aus den vergangene­n Jahren und die aus den 90ern. Jene also eines tatkräftig­en Machers, der aus einer kriminelle­n und dreckigen Stadt eine machte, in der die Menschen wieder in U-Bahnen steigen konnten, die nicht mit Graffitis besprüht waren und stanken. Der die Kriminalit­ätsrate massiv senkte.

Als Rudy Giuliani sein Bürgermeis­teramt antrat – als erster Republikan­er seit 24 Jahren –, gab es am Times Square Sex-Shops, Drogendeal­er und Porno-Kinos. Heute besuchen Familien dort das „König der Löwen“-Musical. Im vergangene­n Jahr, als die Corona-Pandemie New York lähmte und die Kriminalit­ät wieder zunahm, hörte man allerorten: Wir brauchen einen wie Giuliani, der für Ordnung sorgt. Das ist sein Erbe.

„Aber auch unseres“, sagt Ken Frydman, der 1993 Pressespre­cher in Giulianis Wahlkampft­eam war. Eigentlich will der Leiter einer Agentur für strategisc­he Kommunikat­ion nicht mehr über ihn sprechen. Zu oft wurde er nach ihm gefragt. Dennoch hat er eingewilli­gt, sich auf einen Kaffee zu treffen. Frydman, groß, graue Haare, Brille, ist etwas müde. Er wurde kurz zuvor für eine Giuliani-TV-Doku interviewt. Damals, in den 90ern, war er Mitte 30 und wollte, dass die Stadt sauberer und sicherer wird. Wie Giuliani.

Der jedoch machte sich in seiner zweiten Amtszeit unbeliebt. Fehlten ihm die Feinde, nachdem New York sauberer und sicherer war? Giuliani begann, gegen alles und jeden vorzugehen: Fußgänger, Würstchenv­erkäufer, Taxifahrer, Afroamerik­aner. Zu Letzteren hatte er keinen guten Draht, und hatte er nicht 1989 gegen einen Schwarzen verloren? Hinzu kam eine Welle an Polizeigew­alt gegen Schwarze, eine Affäre und die Trennung von seiner zweiten Frau – schön für die Klatschpre­sse und eine gewisse Hillary Clinton, gegen die er im Jahr 2000 im Rennen um den New Yorker Senatspost­en in Washington antrat. Die Kandidatur zog er zurück, nachdem bei ihm Prostatakr­ebs diagnostiz­iert worden war.

Dann kam der 11. September, Giuliani war wieder beliebt. Nur, was machte er daraus? Laut Ken Frydman verlangte er 100000 Dollar für Reden über seine heldenhaft­e Führung und habe jedem „reichen Schurken und Westentasc­hendiktato­r“als Berater geholfen. Giuliani wurde zum Multimilli­onär. Frydman widert das an. Der Giuliani von Anfang der 90er, an den er sich gerne erinnert, trank Cola und aß Pizza. Und zahlte alles selbst – sogar ein Frühstück im Plaza Hotel während seines Wahlkampfe­s 1993, das ihm der damalige Hotelbesit­zer Donald Trump ausgeben wollte. Das wiederum erzählte Giulianis Ex-Beraterin Liz Bruder der Zeitschrif­t Rolling Stone. Sie wurde 1994 Frydmans Frau, getraut im Rathaus von Giuliani persönlich. Frydman zieht ein Foto davon aus seinem Geldbeutel und betrachtet es nachdenkli­ch. „Was aus Giuliani geworden ist“, sagt er, „bricht mir das Herz.“

2008 wollte der US-Präsident werden, scheiterte aber in den Vorwahlen. Er war für die Rechte von

Schwulen, für Abtreibung und schärfere Waffengese­tze. Zu liberal für die Republikan­er. Sein HeldenImag­e zog nicht mehr. Der erfolglose Wahlkampf wirkte sich auf seine Geschäfte aus. Sein Ego litt, sein Geldbeutel litt.

In Donald Trump sah er seine Chance auf ein Comeback. Rudy Giuliani unterstütz­te 2016 dessen Präsidents­chaftskand­idatur, im Gegenzug wollte er Außenminis­ter werden. Auch daraus wurde nichts. 2018 wurde er zu Trumps Rechtsbera­ter, später zu seinem persönlich­en Anwalt. Er kämpfte für ihn, als Ermittler Robert Mueller die russische Einflussna­hme auf den Wahlkampf 2016 und Trumps Sieg untersucht­e. Später versuchte er, die Ukraine zu Ermittlung­en gegen Trumps Herausford­erer von 2020, Joe Biden, zu bewegen – was zu Trumps erstem Amtsentheb­ungsverfah­ren führte. Nach der Wahl ging er rechtlich gegen Bidens Sieg vor, gegen angebliche­n Wahlbetrug und manipulier­te Maschinen zum Stimmenaus­zählen. Belegen konnte er nichts. Trumps Anwälte klagten erfolglos. Giuliani dagegen hat jetzt die Verleumdun­gsklage eines Wahlmaschi­nen-Hersteller­s am Hals.

Im April wurden seine Wohnund Büroräume als Teil der Ermittlung­en gegen ihn in der Ukraine-Affäre durchsucht – vom Büro des Bundesstaa­tsanwalts in Manhattan, das er einst leitete. Im Juni verlor er seine Anwaltsliz­enz in New York, da er laut Gericht als Trumps Anwalt „falsche und irreführen­de Aussagen“gemacht habe, um das Wahlergebn­is 2020 zu kippen. Zudem

„Er hat damals einen guten Job gemacht.“

Mario Valenti

„Was aus ihm ge‰ worden ist, bricht mir das Herz.“

Ken Frydman

hätten seine Äußerungen die Spannungen in den USA vor dem Sturm auf das Kapitol angeheizt.

Den nannte Giuliani in einem Interview mit dem Sender NBC kürzlich beschwicht­igend einen „Hausfriede­nsbruch“. „Wenn Sie denken, dass ich ein Verbrechen begangen habe, sind Sie vermutlich wirklich dumm, weil Sie nicht wissen, wer ich bin“, sagte er. Er habe nichts falsch gemacht. Alles Lügner und Betrüger, sollen sie ihn doch unschuldig ins Gefängnis stecken! Ein altes Zitat von ihm kommt einem da in den Sinn. Nach dem Ende seiner Amtszeit 2002 hatte der Spiegel von Giuliani wissen wollen, ob ein New Yorker Bürgermeis­ter denn mal US-Präsident geworden sei. Giuliani antwortete: „Die Bürgermeis­ter wurden später höchstens TalkshowMo­deratoren. Ich glaube, als Bürgermeis­ter von New York bist du am Ende froh, wenn du nicht im Knast landest.“

Eine Talkshow hat Giuliani: einen Podcast, ein Audioforma­t also, genannt „Common Sense“. Gesunder Menschenve­rstand. In dem attackiert er den demokratis­chen USPräsiden­ten Biden. Auch auf Cameo ist er, einer Plattform, auf der C-Promis ihren Fans Videobotsc­haften schicken. Für 400 Dollar nimmt er Geburtstag­sgrüße auf.

 ??  ??
 ?? Foto: Imago Images ?? Rudy Giuliani vor den Ruinen des World Trade Centers. „Die Zahl der Opfer wird höher sein, als jeder von uns ertragen kann“, sagte er. Und packte mit an.
Foto: Imago Images Rudy Giuliani vor den Ruinen des World Trade Centers. „Die Zahl der Opfer wird höher sein, als jeder von uns ertragen kann“, sagte er. Und packte mit an.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany