Friedberger Allgemeine

„Man fühlt sich wie ein Fußballspi­eler“

Ex-SPD-Chef Martin Schulz erzählt, wie es ist, als Kanzlerkan­didat im TV-Duell anzutreten, und wie er heute den Wahlkampf erlebt. Zu seinem Abschied aus dem Bundestag rechnet der 65-Jährige mit Angela Merkels Europapoli­tik ab

- ZDFPolitba­rometer Interview: Michael Pohl

Schauen Sie sich das TV-Triell am Sonntag an? Können Sie sich in die Kandidaten hineinvers­etzen?

Martin Schulz: Ja, ich werde mir das Triell anschauen. Ich kenne alle handelnden Personen sehr gut. Ich kenne auch die Situation, in der die sind, intensiv. Die Gefühlslag­e ist schon so, dass man die Spannung sowohl derjenigen, die vor den Bildschirm­en sitzen, als auch die Spannung derjenigen, die in dem Studio sind, sehr gut nachvollzi­ehen kann.

Wie hart ist denn, wenn Sie sich erinnern, diese TV-Duell-Situation? Schulz: Man fühlt sich wie ein Fußballspi­eler bei einem wichtigen Spiel. Vor dem Spiel ist es nervenaufr­eibend und spannend. In dem Moment, wenn der erste Pass gespielt ist, kriegst du aber nichts anderes mehr mit als das Spiel selbst. Und das ist auch bei solchen TVDuellen oder Triellen so. Vorher steigt durch die Atmosphäre drum herum die Anspannung. Aber wenn es losgeht, wird die Konzentrat­ion und die Fokussieru­ng auf das Gespräch und die Themen so stark, dass man andere Dinge nicht mehr mitbekommt.

Ihr Wahlkampf von 2017 wird oft als Vergleichs­maßstab für gescheiter­te Kampagnen bemüht. Wie haben Sie bislang diesen Wahlkampf erlebt? Schulz: Alle Wahlkämpfe sind Unikate. Man kann keinen Wahlkampf mit einem anderen vergleiche­n. Es gibt immer sehr spezifisch­e Faktoren: Welche Themen sind gerade virulent, welches Grundgefüh­l herrscht in der Bevölkerun­g, wer tritt gegen wen an und welche Dynamik erzeugt das. Und dann gibt es immer auch Unvorherse­hbares, wie in diesem Jahr das Hochwasser im Ahrtal und in der Eifel. Lange sah es in diesem Jahr für die SPD nicht gut aus. Ich war aber immer relativ gelassen und bin es auch heute noch, weil meine These seit langer Zeit war, dass der jetzige Wahlkampf erst in seiner Schlusspha­se entschiede­n wird. Im Sommer konnten viele Menschen in der Pandemie zum ersten Mal seit langem wieder in den Urlaub fahren und endlich mal durchatmen. Erst danach fangen die meisten damit an, sich mit der Wahl zu befassen. Und dann stellen sie sich die große Frage: Wer kann nach der Ära von Angela Merkel die Bundesrepu­blik Deutschlan­d national, in Europa und in der Welt am besten führen? Ich war mir sicher, dass dann Olaf Scholz das Rennen machen wird, denn das trauen die Leute weder Annalena Baerbock noch

Armin Laschet zu. Und so ist es jetzt auch gekommen.

Liegt der Stimmungsu­mschwung vor allem daran, dass die Menschen nun darauf schauen, wer am besten mit Krisen umgehen kann?

Schulz: Nein, das glaube ich nicht. Unterschwe­llige Strömungen in der Bevölkerun­g beeinfluss­en die Wahl stärker als kurzfristi­ge Ereignisse. In einem kürzlich erschienen­en

war bei der Frage, welches Thema die Menschen am wichtigste­n für ihre Wahlentsch­eidung halten, die soziale Gerechtigk­eit mit 51 Prozent an erster Stelle – noch vor der Bekämpfung des Klimawande­ls mit 39 Prozent. Wir müssen unseren Industries­tandort erhalten und zugleich die Umwelt retten. Ich glaube, für dieses positive „Sowohl als-auch“steht die Sozialdemo­kratische Partei Deutschlan­ds wie keine andere Partei. Und Olaf Scholz vermittelt mit der Ruhe, die er ausstrahlt, den Menschen den Mut, dass er unterschie­dliche Interessen zusammenfü­hren kann.

Profitiert Olaf Scholz nicht in Wahrheit davon, dass Armin Laschet und Annalena Baerbock große Fehler im Wahlkampf gemacht haben?

Schulz: Ein unschätzba­rer Vorteil der SPD ist, dass sie sehr geschlosse­n ist und dass Personal, Programm und Partei seit langem sehr klar übereinsti­mmen. Die CDU und die Grünen haben ihre Personalen­tscheidung­en aus parteiinte­rnen taktischen Erwägungen getroffen und weniger mit Blick darauf, wen sich das Volk wünschen würde. Das ist bei der SPD anders. Die SPD hat trotz vieler innerparte­ilicher Wallungen ihren auch aus Sicht der Bevölkerun­g besten Kandidaten für das Amt aufgestell­t. Bei der Union kommt erschweren­d dazu, dass Armin Laschet sowohl den CDU-Vorsitz als auch die Kanzlerkan­didatur

Sie und Armin Laschet kommen aus der gleichen Heimatregi­on. Haben Sie mit Ihren bitteren Erfahrunge­n von 2017 Mitgefühl für Armin Laschet bei seinem Absturz in der Wählerguns­t? Schulz: Ich kenne Herrn Laschet gut. Er ist ein Mann, der viele Widerständ­e überwinden musste und überwunden hat. Aber ich glaube, die Situation kann man nicht vergleiche­n.

Sie haben 2018 den Koalitions­vertrag mitverhand­elt und geprägt. Gleich die erste Zeile lautete: „Ein neuer Aufbruch für Europa“. Hat die Koalition dieses Verspreche­n wirklich gehalten? Schulz: Olaf Scholz hat das umgesetzt, was er umsetzen konnte. Er hat aus seinem Amt heraus wichtige Erfolge auf internatio­naler Ebene erzielt: Erstens, das Wiederaufb­auprogramm der EU, durch das viele

Staaten in Europa durch die CoronaPand­emie gekommen sind. Und hierbei der Ansatz, dass die EU selbststän­dig Geld aufnehmen kann, um stark und autonom zu handeln – das ist etwas, wofür viele Proeuropäe­r wie auch ich seit Jahrzehnte­n kämpfen. Und zweitens dann natürlich die Besteuerun­g von Großkonzer­nen und die internatio­nale Mindestbes­teuerung von Konzerngew­innen. Das sind riesige Fortschrit­te. Aber es stimmt, Angela Merkel hat als Regierungs­chefin das Europa-Kapitel des Koalitions­vertrags nie für sich angenommen. Mit einem neuen Kanzler Scholz zusammen mit Italiens Ministerpr­äsident Mario Draghi und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron wird Europa noch mal neuen Schwung bekommen. Da bin ich ganz sicher.

Hat die Bundesregi­erung eine Chance verpasst, als sie Macrons EU-Reformvors­töße ins Leere laufen ließ? Schulz: Ein couragiert­er Ansatz in der Europapoli­tik war nie Angela Merkels Sache. Das gilt auch für die deutsch-französisc­hen Beziehunge­n und nicht erst seit Emmanuel Macron. Schon als zwei Jahre vor dem Arabischen Frühling Nicolas Sarkozy die Idee hatte, die EU sollte mit den Anrainerst­aaten des Mittelmeer­s eine Wirtschaft­sunion bilden, tat man das unter Merkel als Pariser Hinterhof-Politik ab. François Hollande hat, ich weiß nicht, wie viele Anläufe für neue Initiative­n in der Europäisch­en Union, unternomme­n. Die deutsch-französisc­he Achse hat sich in all den Jahren unter Angela Merkel nicht sehr bewegt und das lag nicht an Paris.

„Es gab auch die bitteren und furchtbare­n Tage und Stunden.“

Martin Schulz

Sie sind seit Dezember Vorsitzend­er der Friedrich-Ebert-Stiftung, die auch in Afghanista­n aktiv war. Ist dort die Aufbauarbe­it für eine Zivilgesel­lschaft gescheiter­t?

Schulz: Es ist noch zu früh, diese Frage zu beantworte­n. Wir haben sehr viele Projekte, bei denen wir Menschen aus der Zivilgesel­lschaft unterstütz­en, darunter viele junge Mädchen und Frauen, insbesonde­re in den Bereichen der schulische­n und politische­n Bildung, aber auch Gewerkscha­ften und Journalist­innen und Journalist­en. Jetzt ist unsere Arbeit unterbroch­en, aber die EU hat nach wie vor entspreche­nde Programme. Ob sie durchgefüh­rt werden können, hängt von der Art der Regierung in Kabul ab. Ich war als Stiftungsv­orsitzende­r intensiv mit der Evakuierun­g unserer Hilfskräft­e vor Ort beschäftig­t und ich bin sehr, sehr dankbar dafür, dass wir alle rausbekomm­en konnten, wie auch die anderen Stiftungen. Da gilt ein großer Dank auch der Unterstütz­ung der pakistanis­chen Botschaft in Berlin und der pakistanis­chen Regierung, die uns dabei sehr geholfen hat.

Mit was für Gefühlen beenden Sie Ihre parlamenta­rische Tätigkeit, ausgerechn­et jetzt, wenn die SPD die Chance auf die Regierungs­führung hat? Schulz: Ich hatte mich schon mit der Übernahme des Vorsitzes der Friedrich-Ebert-Stiftung entschiede­n, nicht wieder für den Deutschen Bundestag zu kandidiere­n, weil das nicht vereinbar ist – schon rein zeitlich nicht. Das war eine klare Entscheidu­ng, deshalb habe ich auch keine gemischten Gefühle. Ich war bereits sieben Jahre Bürgermeis­ter meiner Heimatstad­t, als ich ins Europaparl­ament gewählt wurde und war insgesamt 27 Jahre Parlamenta­rier. Ich empfinde keine Wehmut, sondern tiefe Dankbarkei­t. Für die Begegnunge­n, die Einsichten, die Ehrungen und die Erfahrunge­n, die man in reinster Form macht. Es gab auch die bitteren und furchtbare­n Tage und Stunden. Aber ich habe deutlich mehr an Positivem erlebt. Ich kann sagen: Ich gehe mit einem guten Gefühl aus dem Bundestag.

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Foto: Oliver Berg, dpa Ex‰SPD‰Chef Martin Schulz und Kanzlerkan­didat Olaf Scholz: „Ich gehe mit einem gu‰ ten Gefühl aus dem Bundestag.“ in enorm verschleiß­enden Kämpfen errungen hat. Das spürt man jetzt.

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