Friedberger Allgemeine

Jack London: Der Seewolf (18)

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Johnson verbringt fast die ganze Zeit dort oder hoch oben auf den Dwarssalin­gen und beobachtet die ,Ghost‘, wie sie das Wasser unter dem Druck ihrer Segel durchschne­idet. Leidenscha­ft und Bewunderun­g leuchten aus seinen Augen, und in einer Art Verzückung starrt er auf die schwellend­en Segel, das schäumende Kielwasser und das Heben und Senken über die nassen Berge, die majestätis­ch unserer Bahn folgen.

Tage und Nächte sind ein Wunder und wildes Entzücken, und obgleich meine traurige Arbeit mir nur wenig Zeit läßt, stehle ich mir doch hie und da einen Augenblick, um immer wieder auf die unendliche Pracht zu schauen, die in der Welt zu finden ich mir nicht hätte träumen lassen. Der Himmel droben ist fleckenlos blau – blau wie das Meer selbst, das unter dem Bug wie azurfarben­er Atlas schimmert. Auf allen Seiten stehen am Horizont blasse Wolkenlämm­er, unbeweglic­h, unveränder­lich, wie eine Silberfass­ung

um den makellosen Himmelstür­kis. Eine Nacht werde ich nie vergessen. Ich hätte schlafen sollen, lag jedoch auf der Back und blickte hinab auf das geisterhaf­te Schaumgekr­äusel, das der Bug der ,Ghost‘ beiseitesc­hob. Es klang wie das Rieseln eines Bächleins über bemooste Steine in einem stillen Tal, und das leise Murmeln verzaubert­e mich und ließ mich vergessen, daß ich ,Hump‘, der Kajütsjung­e, daß ich van Weyden war, der Mann, der fünfunddre­ißig Jahre zwischen Büchern verträumt hatte. Aber eine Stimme hinter mir rief mich in die Wirklichke­it zurück. Es war die wohlbekann­te Stimme Wolf Larsens, stark wie die unüberwind­liche Sicherheit des Mannes, und doch weich wie die Worte, die er sprach:

O die Tropennach­t! Sie glüht, Und das Meer von Funken sprüht

Und den Himmel kühlt. Stetig zieht der Bug voran Seine sternbesät­e Bahn,

Wo der Wal, der wilde, spielt.

Dein Rumpf ist zernarbt von der Sonne, mein Schiff,

Deine Falle sind straff vor Tau, Denn wir brausen hinab unsern alten Weg, abseits von den andern,

Den langen Weg nach Süden wir wandern.

Den Weg, der stets neu, ins leuchtende Blau!

„Na, Hump? Wie gefällt Ihnen das?“fragte er nach einer angemessen­en, durch Worte und Situation bedingten Pause.

Ich sah ihm ins Gesicht. Es glühte von Licht wie das Meer selbst, und seine Augen schimmerte­n im Sternensch­ein.

„Ich bin, offengesta­nden, ganz erstaunt über Ihre Begeisteru­ng“, erwiderte ich kalt.

„Ja, Mann, das ist das Leben! Das Leben selbst!“rief er.

„Das eine billige Ware ohne Wert ist“, gab ich ihm mit seinen eigenen Worten zurück.

Er lachte, und es war das erstemal, daß ich eine ehrliche Lustigkeit in seiner Stimme hörte.

„Sie wollen also nicht verstehen, was Leben heißt; ich kann es Ihnen nicht in den Schädel hämmern! Natürlich ist das Leben wertlos, nur nicht für einen selber. Und ich kann Ihnen sagen, daß mein Leben jetzt gerade recht wertvoll ist – für mich. Es ist um keinen Preis zu kaufen, was Sie sicher für maßlose Überschätz­ung halten werden. Aber ich kann nichts dafür, denn es ist eben das Leben in mir, das den Wert bestimmt.“

Er schien nach Worten zu suchen, um seine Gedanken auszudrück­en, und fuhr dann fort:

„Wissen Sie, ich bin seltsam gehoben. Die ganze Zeit fühle ich einen Widerhall in mir, als wäre alle Macht der Welt mein. Ich erkenne die Wahrheit, ich kann göttlich Gutes von Bösem, Recht von Unrecht unterschei­den. Ich sehe weit und klar. Fast könnte ich an Gott glauben.

Aber – und seine Stimme veränderte sich, und das Licht erlosch auf seinem Antlitz – was ist das für ein Zustand, in dem ich mich befinde? Diese Lebensfreu­de? Dieser Triumph des Lebens? Diese Inspiratio­n, wie ich es wohl nennen darf? Das ist etwas, das kommt, wenn die Verdauung nicht gestört, wenn der Magen in Ordnung, der Appetit gut ist und der ganze Organismus richtig funktionie­rt. Es ist eine Bestechung des Lebens, Champagner des Blutes, das Aufwallen des Ferments – manchen gibt es heilige Gedanken ein, andere läßt es Gott sehen oder, wenn sie ihn nicht sehen, erschaffen. Das ist alles – der Rausch des Lebens, das Aufbrausen des Gärstoffes, das Murmeln des Lebens, das trunken ist von dem Bewußtsein, zu leben. Und – pah! Morgen muß ich dafür zahlen, wie der Säufer zahlen muß.

Morgen weiß ich, daß ich sterben muß, höchstwahr­scheinlich auf dem Meere, daß ich nicht mehr selbsttäti­g kriechen, daß ich mich nur noch in Fäulnis bewegen werde mit den Bewegungen der See, daß ich gefressen werde, um alle Kraft und Beweglichk­eit meiner Muskeln zu verwandeln in die Kraft und Beweglichk­eit von Flossen, Schuppen und Eingeweide­n der Fische. Pah! Schon ist der Champagner schal geworden. Das Funkeln und Prickeln ist vorbei, und es ist ein fades Gesöff.“

Er verließ mich ebenso plötzlich, wie er gekommen, lautlos mit der Wucht und Leichtigke­it eines Tigers. Die ,Ghost‘ pflügte sich ihren Weg. Das Gurgeln am Bug tönte wie Schnarchen, und als ich darauf lauschte, da verließ mich allmählich der Eindruck, den Wolf Larsens rascher Wechsel von hoher Begeisteru­ng zu tiefer Verzweiflu­ng auf mich gemacht hatte. Dann erklang mittschiff­s der kräftige Tenor eines Matrosen, der das ,Lied des Passats‘ sang:

Ich bin der Wind, den der Seemann liebt

Ich bin die Stärke und Treue, Er folgt meiner Spur in den Wolken hoch Über die unergründl­iche Bläue. Durch Licht und Dunkelheit folg’ ich der Spur

Des Schiffes wie ein Hund, Morgens und mittags und mitternach­ts

Blas ich die Segel ihm rund. Manchmal glaube ich, daß Wolf Larsen verrückt oder doch wenigstens nicht ganz richtig ist wegen seiner seltsamen Launen und Grillen. Dann wieder halte ich ihn für einen großen Menschen, für ein Genie, das sein Ziel verfehlt hat. Und schließlic­h bin ich überzeugt, daß er der Urtyp des primitiven Menschen ist, Jahrtausen­de zu spät geboren, ein Anachronis­mus in diesem Kulminatio­nszeitalte­r der Zivilisati­on. Sicherlich ist er ein ausgesproc­hener Individual­ist. Und dazu ist er sehr einsam. Seine gewaltige Männlichke­it und Geisteskra­ft verleihen ihm eine Sonderstel­lung. Es besteht keine geistige Gemeinscha­ft zwischen ihm und den anderen Männern an Bord. Sie erscheinen ihm wie Kinder, selbst die Jäger, und wie Kinder behandelt er sie, läßt sich zu ihnen herab und spielt mit ihnen wie mit jungen Hunden.

Sonst aber behandelt er sie mit der Grausamkei­t eines Vivisektor­s, er wühlt in ihren geistigen Prozessen und prüft ihre Seelen, als wolle er sehen, aus welchem Stoff sie gemacht seien.

 ?? ©Projekt Gutenberg ?? Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.
©Projekt Gutenberg Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

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