Der längste Moment der Geschichte
Triumph des Terrors, Demütigung der Supermacht: Die Bilder von 9/11 wurden live in alle Welt übertragen – und dann in Endlosschleife wiederholt. Betrachtung zur dunklen Ikone des neuen Medienzeitalters
Da ist der Moment zuvor: Dienstag, 8.41 Uhr, Manhattan erwacht in einen strahlenden Spätsommertag, in schönstem Licht liegt die meistfotografierte Skyline der Welt am Hudson… So wird es demnächst wieder zu sehen sein, samt der herausragenden Zwillingstürme des World Trade Centers. Panorama-Künstler Yadegar Asisi wird ein riesiges Rundumbild davon ausstellen, wie er es schon zur Völkerschlacht von Leipzig 1813 und zur Bombennacht von Dresden 1945 getan hat – als drittes Antikriegsprojekt. Bei „New York 9/11“aber, ohne die Zerstörung zu zeigen. „Ein Atemzug vor der Katastrophe“, wie er es nennt.
Denn die Bilder der Katastrophe selbst sind auch 20 Jahre danach dermaßen eingebrannt ins Bildgedächtnis, dass eine begehbare Maximalvergrößerung bloße Pornografie wäre: vorzeigen, um zu wirken, pure Oberflächenreaktion. Der gerade zuvor noch so normale, alltägliche, schöne Morgen des 11. September 2001 im gleich danach untergehenden Fototapeten-Manhattan hat da in Zeit und Aussage eine Ebene mehr. Kein Problem jedenfalls, dass Asisi das Werk für den Leipziger
Panometer nicht vor dem 20. Jahrestag fertig bekommen hat. Denn das Bildgedächtnis braucht keinen Jahrestag, der Moment danach wird gegenwärtig bleiben.
Es ist der längste Moment der Geschichte. Die Live-Bilder und ihre Wiederholung und Wieder-Wiederholungen in Dauerschleife über tausende Fernsehsender weltweit und auf allen Internetkanälen im da gerade erblühenden, neuen MedienJahrtausend: Sie haben nicht nur sofort die über all die Zeit zuvor angehäuften Millionen Aufnahmen der intakten Skyline getilgt – hintereinandergereiht würden die gesendeten Aufnahmen der rauchenden und dann stürzenden Türme, des aufprallenden zweiten Flugzeugs und der Metropole in einer Staub- und Aschewolke Jahrzehnte füllen. So viel wie kein Moment zuvor.
Über Stunden und Stunden starrten Menschen auf diese Bilder auf den Bildschirmen, im Versuch, sich ihrer Wirklichkeit gewahr zu werden. Die oberflächliche Nähe zu den seit vielen Jahren effekttechnisch immer versierter realistisch gewordenen Katastrophen-Filmen hat da nicht geholfen. Aber dann die Verstörung, als die unentwegt aus nah und fern auf die Türme glotzenden
Kameras plötzlich Menschen zeigen, die sich in den Tod stürzen, in echt, live. Gerade im Konkreten und darum Erfassbaren erreichte das Starren auf jenes weltpolitische Fanal die Grenze des Erträglichen.
Doch ein Fanal wofür? Messianisch aus kargen Höhlen predigende Dschihadisten hatten Kanäle des globalmedialen Megaplayers zu Beginn des neuen Jahrtausends gegen diesen selbst gerichtet. Mit den Bildern eines nicht vorstellbaren Geschehens jedenfalls drehten auch die Folgefragen Endlosschleifen: Die Terroristen haben es tatsächlich geschafft, das größtmögliche Symbol gegen die Supermacht zu setzen, in alle Welt übertragen – muss darauf nicht zwangsläufig ein Wort folgen: Krieg? Gil Scott-Heron sang einst: „The Revolution Will Not Be Televised“– wurde hier nun aber der Beginn eines neuen Weltkrieges live im Fernsehen übertragen?
Doch auch auf den längsten Moment der Geschichte folgte ein nächster. Wer noch am selben Tag, dem 11. September 2001, etwa im Zug durch die schwäbische Provinz fuhr, konnte schon mal mit drei Jungs im Abteil landen, die sich
vor allem in einem Verdruss einig waren: „Jetzt kommt die nächsten zwei Wochen wieder nix G’scheits im Fernsehen!“Wer schon fassungslos war, dass es über dieses Geschehen in manchen Teilen der Welt ausgelassenen Jubel gab – Gleichgültigkeit ist (wie zur Liebe) dazu der vielleicht noch größere Gegensatz. Und auf jenen von den Endlosschleifen okkupierten Bildschirmen mischten sich bereits in der ersten Nacht die ersten grünstichigen Aufnahmen von Raketenabschüssen. Doch den Bann der wie Fackeln über Manhattan brennenden Türme, in Sichtweite der ganz anders symbolhaft befackelten Freiheitsstatue konnten sie nicht brechen.
Der Moment war nicht vorbei, nur schockgefroren. Er konnte beim einfachen Kinogang viele Wochen später einfach erwachen, nicht nur weil in manchen Vorstellungen das Publikum vor Filmbeginn wohlfeil zum Erheben für eine Gedenkminute an die über 3000 Todesopfer aufgefordert wurde. Sondern weil dann auf der Leinwand, mitten in Steven Spielbergs Sci-Fi-Blockbuster „A.I.“, in der fernen Zukunft also, aus dem überfluteten New York ewig identifizierend noch die Zwillingstürme ragten. Auch diese Fantasie war nun vorbei, auch diese Zukunft von der Gegenwart überholt.
Aber ein Moment, auch der längste der Geschichte, lebt nur so lange, bis er verdrängt oder weiterverarbeitet ist – was in einem solchen Fall meist das gleiche heißt: instrumentalisiert, auf andere Zwecke hin gelesen wird. Das ist vor allem in den um Schockbearbeitung bemühten USA geschehen – auf keine segensreiche Weise (siehe Wochenend Journal). Aber bei dieser weltweiten Wirkung kam man wie überall auch hierzulande nicht um die Verarbeitung herum. Während Künstler wie Gerhard Richter oder Thomas Ruff (wie nun in der Ausstellung „Mindbombs“in der Kunsthalle Mannheim zu sehen) die Bilder in Werken verunklarten, verwischten und verpixelten, um sie über das reine Zeigen hinaus als Medium der Vermittlung zu befragen. Die Popgruppe Pur dagegen zeigte die Aufnahmen von 9/11 bei Konzerten bald schon blank auf einer die Bühne hinterfangende Riesenleinwand – und Hartmut Engler sang dazu: „Bitte Lieber Gott, hörst Du sie beten / Bitte Lieber Gott, Du kriegst das doch hin / Bitte Lieber Gott, und Frieden auf Erden / Lass sie nicht hängen und schenk diesem / Ganzen den Sinn.“Im Bildzeitalter wird auch die Katastrophe zu Kitsch.