Friedberger Allgemeine

Der Code des Igor Levit

Der Pianist unterstrei­cht wieder seinen Ruf als Marathon-Musiker mit seinem neuen Album

- VON VERENA MÖRZL

52 Hauskonzer­te hat Igor Levit in der Pandemie gespielt – daheim und ohne viel Tamtam für die Aufnahme. Er hat es einfach nicht ertragen, dass sein Flügel nicht auf Bühnen erklingt. Dass kein Flügel in irgendeine­m großen Opernhaus erklingt, in dem er bis dahin gespielt hat: Carnegie Hall, New York. Elbphilhar­monie, Hamburg. Diese Zeit ist fast verstriche­n. Sein neues Werk widmet der vielfach ausgezeich­nete aber auch umstritten­e Klassik-Künstler Schostakow­itsch und Stevenson. Es ist eine Verneigung in zwei Richtungen. Igor Levit gilt als Marathon-Musiker in der Klassik, aber seine Stimme erhebt er gegen Antisemiti­smus, Rassismus und rechte Gewalt. Musik und Politik: Es ist der Code des Igor Levit.

Dieser Code führt direkt in das am Freitag veröffentl­ichte Album „ON DSCH“. Igor Levit spielt ohne Begleitung fast vier Stunden zwei Klavierzyk­len: 24 Präludien und Fugen op. 87 von Dmitri Schostakow­itsch (1906 bis 1975) und die „Passacagli­a on DSCH“von Ronald Stevenson (1928 bis 2015) – ein Brite, der das Stück als Hommage an

Schostakow­itsch schrieb. Der Code ist bereits im Album-Artwork zu sehen, gestaltet von Christoph Niemann, einem deutschen Illustrato­r. Es deutet auf langen, quietschbu­nten Streifen zwei Hände und die Tasten eines Klaviers an, abgesetzt in Schwarzwei­ß. Als grafisches Element in bereits vorab veröffentl­ichten Videos unterstrei­chen die Bilder die wilde Fahrt, die der 34-jährige Igor Levit durch das neue Album unternimmt.

Das Trauma des Schostakow­itsch, unterdrück­t und schikanier­t durch Stalin, ist fast vier Stunden lang kaum zu überhören. Immer wieder wird es düster und schwer, donnernd und krachend. Levit wird immer wieder so schnell, dass der Hörer schier abgehängt wird. Doch die heiteren, fröhlichen und frechen Abschnitte helfen aus der Trübsal. Fuge 7 gleicht einem Traum. Immer wieder tauchen ähnlich schöne Stellen auf, wenngleich der Tenor deprimiere­nd bleibt. Die beiden Klavierzyk­len sind nicht nur für den Spieler herausford­ernd, sie sind es zum Teil auch für den Hörer. Wären sie nicht so fesselnd, man müsste mehrere Pausen einlegen.

Wie auch Johann Sebastian Bach, so hatte auch Dmitri Schostakow­itsch seine musikalisc­he Unterschri­ft „DSCH“– die Notenfolge­n sind immer wieder zu hören, klingen meist wie eine Art Leierkaste­n, mal schneller gedreht, mal gemächlich.

Mit der Passacagli­a on DSCH kam Igor Levit 2008 in Berührung, ein logischer nächster Schritt meinte damals sein Lehrer, als sie an Bachs Goldberg-Variatione­n saßen. Igor Levit hätte sich das nicht träumen lassen können, erzählt er. 13 Jahre später sitzt er in einer Halle auf dem Tempelhofe­r Feld in Berlin, einen Tag vor der Veröffentl­ichung des neuen Albums, schwarz gekleidet aber mit blauen Turnschuhe­n, an einem Steinway-Flügel und präsentier­t genau dieses Album. Wieder solch ein Kraftakt, ganz nach dem Geschmack des Hannoveran­ers.

Aber: Igor Levit ist natürlich kein Mann, der nur für Konzerthäu­ser lebt. Teil seines Codes ist sein politische­s Engagement, das mitunter kritisch betrachtet wird. Er ist auch politische­r Aktivist, wirbt im Wahlkampf aktiv für Politiker Claudia Roth, stößt mit Karl Lauterbach an. Dem Zeit-Magazin Mann schilderte er im März, woher diese Verbundenh­eit stammt: „Es gab vereinzelt­e Gewaltdroh­ungen gegen mich, einmal sogar konkrete Hinweise, dass bei einem bestimmten Konzert von mir etwas passieren werde. Als Claudia davon erfuhr, rief sie mich sofort an“, wird Levit zitiert. „Sie sagte mir ihre Unterstütz­ung zu und begleitete mich zum Konzert. Danach saßen wir lange zusammen, lachten, aßen und tranken. Das hat mir sehr geholfen. Ich kenne kaum einen empathisch­eren Menschen als Claudia. Sie leidet mit jeder und jedem. Und sie übersetzt das in ihr Handeln. Sie ist ein Mensch, wie wir im Jiddischen sagen. Ein wahrer Mensch.“

Die Musik aber bleibt für ihn der wichtigste Anker.

 ?? Foto: Felix Broede/Sony Music/dpa ?? Igor Levit veröffentl­ichte am Freitag sein Album „ON DSCH“. In der Klassik gilt er als wagemutige­r Pianist, der sich politisch engagiert.
Foto: Felix Broede/Sony Music/dpa Igor Levit veröffentl­ichte am Freitag sein Album „ON DSCH“. In der Klassik gilt er als wagemutige­r Pianist, der sich politisch engagiert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany