Weil nur Schule die soziale Kluft überbrücken kann
Bildung Für zwei von drei Wählerinnen und Wählern ist das Thema Bildung mitentscheidend dafür, wo am Ende ihr Kreuzchen steht – selbst bei kinderlosen Menschen. Familie Sandtner aus Dillingen hat drei Söhne. Der jüngste, Adrian, nennt den Digitalunterrich
Wenn es nach seinen Eltern geht, darf Adrian Sandtner in fünf Jahren zum ersten Mal wählen. Sie sind für ein Wahlalter ab 16, und Adrian ist fast elf. Von der jetzigen Bundesregierung jedenfalls hat er schon eine klare Meinung. Sollte der Bund mehr mitreden, was an Schulen passiert? Eigentlich ist die Frage an die Eltern gerichtet, doch noch bevor sie antworten können, stützt Adrian die Hände auf den Küchentisch und seufzt: „Ob die das können?“
Familie Sandtner aus Dillingen an der Donau – die Eltern Barbara, 43, und Gerhard, 54, zwei volljährige Söhne und Nesthäkchen Adrian – steht auch nach sechs Wochen Sommerferien und einem langen Urlaub in Österreich und am Balaton noch unter dem Eindruck des vergangenen CoronaSchuljahres. Eines Jahres, in dem jedes Bundesland anders mit seinen Schulen verfuhr, sie unterschiedlich früh schloss und unterschiedlich spät öffnete, mit widersprüchlichen Quarantäneregeln und ohne Konzepte für guten Distanzunterricht. „Den Kindern ist wertvolle Schulzeit gestohlen worden“, sagt Gerhard Sandtner, selbst Berufsschullehrer, zurück daheim am großen, hellen Esszimmertisch in dem geräumigen Einfamilienhaus in der Nähe der Donau. Am Anfang, als niemand etwas über das Virus wusste, habe man das ja noch verstehen können. „Aber spätestens in der dritten Welle hätte man die Schulen offenhalten müssen. Bei den Kindern ist in dieser langen Zeit etwas kaputtgegangen.“
Ja, Bildung ist Ländersache. Und ja, der Blick in die Zukunft ist gerade vor einer Wahl wichtiger als der in die Vergangenheit. Doch für die neue Bundesregierung wird es eine der größten Aufgaben beim Themenschwerpunkt Bildung sein, die Corona-Folgen für Deutschlands Schülerinnen und Schüler abzufedern. Wird das nicht getan, so sagt es zum Beispiel der Erfurter Bildungsforscher Marcel Helbig gegenüber unserer Redaktion, müsse sich nämlich sehr wohl der Bund mit den Folgen herumschlagen, Föderalismus hin oder her. In den Arbeitsagenturen etwa, die dann junge Menschen vermitteln müssen, die im Berufsleben oder an der Universität gescheitert sind.
Adrian Sandtner kommt an diesem Dienstag in die sechste Klasse des BonaventuraGymnasiums in Dillingen. Vor fünf Jahren hatte er seinen ersten Schultag. Damals waren seine Haare noch blonder und wuschelig, jetzt trägt er eine coole Sportlerfrisur, an den Seiten kurz und oben länger. Damals zeigte er stolz seinen Weltraum-Schulranzen, aber reden sollte vor allem seine Mama. Barbara Sandtner hat unserer Redaktion damals geschildert, was sie sich für Adrian in seinem neuen Leben als Schulkind wünscht, was sie sich vom System Schule ersehnt. Sie hoffte auf eine gute Lehrkraft und darauf, dass Adrians Klasse eine angenehme Größe hat. Haben sich ihre Wünsche erfüllt? Barbara Sandtner, die sich in den fünf Jahren äußerlich kaum verändert hat mit ihrem langen braunen Haar, und deren herzliches Lachen immer noch ganze Räume einnimmt, wird kurz ruhig, schaut vom Esszimmer hinaus in den Wintergarten mit seinen meterhohen Bananenstauden. Sie sind noch schneller gewachsen als Adrian.
Nein, so richtig erfüllt haben sich ihre Hoffnungen nicht – auch wenn Adrian sehr gern in die Grundschule gegangen sei. „Der Lehrermangel war schon deutlich zu spüren“, sagt sie im Rückblick. Seit Jahren verlassen weniger neue Lehrkräfte die Universitäten, als an Grundschulen gebraucht werden, bayernweit ist das ein Problem. Gleiches gilt für Mittel- und Berufsschulen. Ständig wechselnde Referendarinnen und Referendare, also Lehrkräfte vor dem zweiten Staatsexamen, hätten ihn unterrichtet. „Und es waren damals 28 Schüler, der Wunsch nach einer kleinen Klasse hat sich also nicht bewahrheitet.“Als ideale Anzahl für einen effizienten Unterricht werden in Bildungskreisen rund 20 Kinder angesehen. Adrian freute sich damals aufs Lego in seiner Schultüte, auf sein Lieblingsessen Pizza, aber auch aufs Lesen, Schreiben und Rechnen. Rechnen habe er schon ein bisschen im Kindergarten gelernt, erzählte er kurz vor dem ersten Schultag stolz. Nach Corona hat er unter
Hoffnungen, die die Mutter am ersten Schultag hatte, wurden nicht erfüllt
anderem in Mathematik die größten Lernlücken. „Du verstehst es einfach nicht so wie im Präsenzunterricht“, sagt er heute und schüttelt den Kopf. Auch in Latein „fehlt Etliches“, sagt sein Vater, in den Sprachen allgemein. Bis das wieder aufgeholt sei, so vermutet der unterrichtserfahrene Gerhard Sandtner, brauche es viel Zeit.
Neben den Förderprogrammen der Länder, die mit Differenzierungsstunden zusätzlich zum normalen Schultag Lernrückstände wieder aufholen wollen, hat auch die Große Koalition ein Förderprogramm aufgelegt. Eine Milliarde soll dieses und nächstes Jahr in Nachholkurse fließen, eine weitere die psychischen und sozialen Folgen auffangen – mit mehr Sozialarbeit zum Beispiel und staatlich finanzierten Familienurlauben. Die Union hat dieses Programm zur Abmilderung der Corona-Folgen auch in ihrem Wahlprogramm festgeschrieben. Hinzu kommt eine Einmalzahlung von 100 Euro für Kinder aus Hartz-IV-Familien.
Die Abhängigkeit der Bildungschancen eines Kindes von der Herkunft und dem Bildungsgrad der Eltern ist in Deutschland so ausgeprägt wie in kaum einem anderen Land Europas – und das seit Jahrzehnten. Schon beim sogenannten Pisa-Schock, als die Schülerinnen und Schüler im weltweiten Vergleich beim Lesen, Schreiben und Rechnen unter mehr als 30 getesteten Nationen nur deutlich im unteren Drittel landeten, machten die Organisatoren der Studie diese „soziale Schere“als Riesenproblem des deutschen Bildungssystems aus. Jeder vierte Jugendliche hatte enorme Schwierigkeiten beim Lesen, auch in Naturwissenschaften waren die getesteten 15-Jährigen schlecht. Und die Chancen für Kinder aus weniger gebildeten Familien – häufig mit Migrationshintergrund –, gute Leistungen zu bringen und einen sozialen Aufstieg zu schaffen, waren erschreckend gering. Die Politik wollte das ändern, doch gelungen ist es nicht – auch nicht zwei Jahrzehnte und fünf Bundestagswahlen später. Neuere Pisa-Studien der vergangenen Jahre, und auch andere Schul-Analysen, bestätigen, dass die soziale Schere zuletzt wieder weiter aufging.
In der Corona-Krise hat sich das Problem verschärft – und hier kommt Bildungsexperte Marcel Helbig ins Spiel. Er widmet einen Großteil seines Akademikerlebens der Erforschung von sozialer Ungleichheit – als Professor an der Universität Erfurt und Arbeitsbereichsleiter „Strukturen und Systeme“am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg. Um diese fatale Abhängigkeit zu ändern, bräuchte man „umfassende Bildungsreformen“, ist Helbig überzeugt. „Wir haben in den meisten Bundesländern immer noch eine starke Trennung nach Leistungen – gerade in Bayern mit seinem dreigliedrigen Schulsystem. Das ist immer auch eine soziale Trennung.“Wolle man mehr Individualisierung, also mehr Fokus auf das einzelne Kind, und auch mehr Inklusion, dann müsse man die Bildung reformieren „hin zu einem System, das Schüler später voneinander trennt und nicht so hart differenziert. Aber dafür war Deutschland noch nie bereit.“Und wird es auch in der nächsten Legislaturperiode nicht sein, so muss man wohl hinzufügen.
Ja, in der Grundschule werde heute „mehr auf das einzelne Kind geschaut, die individuelle Förderung ist mehr Teil der pädagogischen Ausbildung als noch vor 20 Jahren. Aber gerade an den weiterführenden Schulen hat sich wenig verändert seit dem Pisa-Schock.“Die klaffende Lücke zwischen arm und reich, gebildet und nicht gebildet, in der Schule zu schließen, dieses Ziel haben nahezu alle etablierten Parteien außer der AfD im Wahlprogramm. Die SPD kündigt „Chancenhelfer“an, die Grünen „Finanzierungswege für mehr Bildungsgerechtigkeit“, die FDP „Aufstiegspatenschaften“, die CDU mit „Schule macht stark“ein gezieltes Förderprogramm für sozial Benachteiligte. Die Linke wirbt für eine Gemeinschaftsschule, an der alle Kinder länger zusammen lernen.
Immer mitgedacht bei einem modernen Bildungssystem: digitaler Unterricht. Wenn es darum geht, reden in Familie Sandtner alle durcheinander. Die einzige, die nicht genervt ist, ist die graue Familienkatze, die um die Tischbeine streift. Nach Monaten des Distanz- und Wechselunterrichts liegen in den Schulen alle Probleme mit digitaler Technik so offen wie ein schlecht isoliertes Stromkabel.
„Es war manchmal ein totales Chaos“, sagt Adrian und holt tief Luft, so viel kann er zu dem Thema erzählen. „Das war am Anfang alles zu modern für manche Lehrer“, sagt er, spricht über „irre viele Aufgaben“, auf die er selten Feedback bekam, und davon, wie „abgetrennt“er sich beim Lernen in seinem Kinderzimmer von der echten Welt gefühlt habe. Und der Vater kennt es ja auch. Er erinnert sich, wie das SchulWLAN zusammenbrach, wenn mehrere Lehrkräfte Online-Unterricht machen wollten. „Man kann jahrelang seine Wünsche formulieren – und es passiert nichts.“Viele Jahre habe seine Schule etwa um eine leistungsfähigere Internetverbindung gekämpft – vergeblich. „Und es gibt niemanden, der die Hardware professionell betreut.“
Wer Familien mit Schulkindern bei der Wahl überzeugen will, muss in die digitale Bildung investieren – so einfach kann man das sagen. Im jüngsten Bildungsbarometer des Münchner ifo-Instituts sprechen sich 77 Prozent der Eltern dafür aus, digitale Formate verpflichtend in den Unterricht zu integrieren – vor allem die Arbeit mit Computern und Tablets in der Klasse, Lernplattformen und Online-Sprechstunden. Nahezu alle Parlamentsparteien versprechen das – nur bei der AfD kommt die Schul-Digitalisierung im Wahlprogramm nicht vor.
Doch dem Digitalpakt, mit dem Union und SPD bis Mitte des Jahrzehnts 6,5 Milliarden Euro in die digitale Ausstattung von Schulen und ein besseres WLAN investieren möchten, traut Sandtner nicht. „Die Betreuung der Technik liegt wieder bei Kommunen und Landkreisen. Sie müssen das Personal bezahlen – und unser Sachaufwandsträger zum Beispiel hat nie Geld. Das wird der Knackpunkt bleiben.“
Solange Bildung Ländersache ist, wird der Einfluss des Bundes auch nach der Wahl beschränkt bleiben. Bildungsforscher Marcel Helbig sieht dennoch einige Bereiche, in denen die neue Regierung ihren Einfluss stärken kann. Einen davon hat die GroKo als letztes großes Projekt in der vergangenen Woche noch zementiert: den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an der Grundschule. Kinder, die ab dem Jahr 2026 eingeschult werden, sollen einen Ganztagsplatz sicher haben – damit Eltern besser Arbeit und Familie unter einen Hut bekommen, damit Kinder auch am Nachmittag von Fachleuten gefördert werden. Helbig schwört auch die neue Regierung darauf ein, „zeitnah“solche Plätze zu schaffen. Gerne noch vor 2026. „Die Verantwortung für Bildung wird dann weniger stark in die Familien gelegt. Den Wert dieser professionellen Betreuung sieht man seit vielen Jahren in den ostdeutschen Bundesländern.“Dort sind teils schon jetzt 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler mindestens acht Stunden pro Tag in der Schule, die Quote der Mütter, die voll arbeiten gehen, liegt ungleich höher als in den WestLändern. In Bayern sind im Moment rund 55 Prozent der Kinder zwischen sechs und zehn Jahren in Ganztagsbetreuung. Das Familienministerium geht davon aus, dass in Zukunft 80 Prozent der Eltern einen Ganztagsplatz fordern werden.
Und noch etwas verlangt der Bildungsexperte von der künftigen Koalition: endlich hinzuschauen. Endlich die Corona-Folgen für Schülerinnen und Schüler mit Zahlen zu belegen: „Anderthalb Jahre nach Beginn der Pandemie haben wir keinerlei Studie, die zeigt, wie groß die Lernlücken über Deutschland hinweg sind.“Für Helbig hat das System: „Wenn man keine Lernstandsanalysen durchführt, muss man auch nicht zugeben, dass man ein Problem hat. Da muss auch der Bund alles versuchen, was in seiner Macht steht – und Gelder im Forschungsbereich zur Verfügung stellen.“
Barbara und Gerhard Sandtner könnten noch ewig davon sprechen, was im Bildungswesen besser werden muss. Natürlich machen sie als Eltern dreier Söhne ihre Wahlentscheidung auch davon abhängig, welche Ideen die Parteien in den Bereichen Schule und Studium haben. Damit sind die Sandtners nicht allein. Vor der letzten Bundestagswahl hatten fast zwei Drittel der Wahlberechtigten – auch kinderlose – angegeben, dass die Bildungspolitik eine „sehr wichtige“Rolle dabei spiele, wo sie ihr Kreuzchen machen. „Bildung ist die Grundlage für alles“, sagt Adrians Mutter. „Man darf den Druck auf Kinder nicht noch weiter erhöhen. Wir wollen, dass unsere Kinder in der Lage sind, ein eigenständiges, glückliches Leben zu führen – wie auch immer das für sie aussehen mag.“ Dillingen, Bayern