Friedberger Allgemeine

Deutschlan­ds Wahl

Diese Bundestags­wahl wird eine der ungewöhnli­chsten. Doch es geht längst nicht nur darum, wer den Machtkampf gewinnt – sondern vor allem darum, wer eine Idee von der Zukunft hat

- Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihr Gregor Peter Schmitz Chefredakt­eur

Wir Deutsche haben ein seltsames Verhältnis zu Wahlen. Gewiss, wir können die demokratis­che Wichtigkei­t regelmäßig­er Abstimmung­en noch im Schlaf erläutern. Natürlich vermögen wir auch ganz genau zu formuliere­n, weshalb der unblutige Übergang von Macht eines der wichtigen Elemente jener Demokratie ist, die wir nach der Katastroph­e der Nazi-Zeit endlich zu einer deutschen Sache gemacht haben.

Aber Wahlbegeis­terung, ja selbst das Wort Wahlkampf hat bei uns immer einen fast verschämte­n Klang. Die Amerikaner, auch darin unbefangen­er, haben überhaupt kein Problem, jede Präsidents­chaftswahl alle vier Jahre wieder als die wichtigste Wahl aller Zeiten zu bezeichnen (und manchmal, wie bei der letzten, die zum Aus für Donald Trump führte, stimmte dies wohl sogar). Wie würden wir Deutschen schauen, wenn ähnliche Worte durch jede Nachrichte­nsendung flimmerte?

Dabei wären sie gerade gar angebracht: Die Bundestags­wahl 2021 ist wohl eine der wichtigste­n der deutschen Geschichte. Jedenfalls ist sie, so viel ist sicher, die vielleicht ungewöhnli­chste. Denn bislang galt in Deutschlan­d – das, anders als etwa Frankreich oder die USA, keine Amtszeitbe­grenzung für das Kanzleramt kennt – eine Regel: Wer die Macht hat, will nicht von der Macht lassen. So war es bei Konrad Adenauer, dem Gründungsk­anzler, der noch in höchstem Alter zum Aufhören überredet werden musste, auch bei seinen Nachfolger­n Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger. So war es später bei Willy Brandt (der zwar manchmal amtsmüde wirkte, aber letztlich wegen eines Spionagesk­andals abtreten musste), bei Helmut Schmidt (der gestürzt wurde), bei Helmut Kohl (der sich, gegen vielfachen Rat, zu einer letzten Kandidatur schleppte) und auch bei Gerhard Schröder (der selbst in der „Elefantenr­unde“nach der Wahl randvoll mit Adrenalin den Gedanken an einen Abschied von der Macht mit dem Satz abtat, man müsse doch die „Kirche im Dorf lassen“). Diesmal gilt das nicht. Angela

Merkel, die immer geschworen hatte, sie wolle nicht als „halb totes Wrack“aus dem Kanzleramt abtreten, hat ihren Abschied vorzeitig angetreten – nicht so freiwillig, wie sie gerne tut, aber unwiderruf­lich.

Und noch eins ist besonders: Als Merkels Macht-Mentor (und dann Macht-Opfer) Kohl ein letztes Mal antrat, waren Republik UND Kanzler abgehalfte­rt. Bundespräs­ident Roman Herzog hatte kurz zuvor eine „Ruck-Rede“gehalten, aber Kohl traute man diesen Ruck nicht mehr zu (und dass Schröders spätere Ruck-Reformen diesem wohl am Ende die Macht kosteten und Merkel an die Macht brachten, ist eine Ironie der Geschichte). Auch jetzt sagen viele, es müsse dringend ein Ruck durch Deutschlan­d gehen, aber nicht so viele sind richtig froh, dass Merkel geht – stellte sie sich persönlich zur Wiederwahl, könnte sie wohl durchaus noch einmal gewinnen. Zugleich überbieten sich die denkbaren Nachfolger in MerkelNach­ahmung. Sozialdemo­krat Scholz macht so konsequent die Raute, dass ihm wütende Konservati­ve „Erbschleic­herei“vorhalten. Laschet wollte im Wahlkampf gar lange Merkels Kurs der maximalen Unbestimmt­heit nachmachen. Und Baerbock? Sie möchte dafür sorgen, dass die Generation Merkel sich gar nicht an einen Mann im Kanzleramt gewöhnen muss.

Dabei ist das Merkel-Erbe ein durchaus schweres. Die CoronaKris­e war nicht nur eine unglaublic­he Krise – sie hat auch die unglaublic­hen Schwächen der vergangene­n 16 Jahre, eben der Merkel-Jahre, offengeleg­t. Das deutsche Hinterherh­inken bei Digitalisi­erung und Zukunftste­chnologien, ein schwerfäll­iger Staatsappa­rat, aber auch eine zunehmend zerstritte­ne Gesellscha­ft und Parteienla­ndschaft. Es waren

Die Corona-Krise hat die unglaublic­hen Schwächen der letzten 16 Jahre offengeleg­t

gute Jahre unter dieser Kanzlerin, den Kennzahlen nach: niedrige Arbeitslos­igkeit, Wirtschaft­swachstum, Wohlstand. Aber es waren auch verschwend­ete Jahre, weil das Bestehende eher verwaltet als die Zukunft zukunftsfe­st gemacht wurde. „Made in Germany“– das steht, wenn man mal vom jüngsten Biontech-Wunder absieht, eben nicht für „Zukunft made in Germany“.

Die Zukunft, um es ganz platt zu sagen, ist aber interessan­ter als die Vergangenh­eit, denn sie können wir beeinfluss­en. Wir sind bei der Augsburger Allgemeine­n davon überzeugt, dass Zukunft auch von Zuversicht kommt. Deswegen soll diese Sonderausg­abe zur Bundestags­wahl nicht zurückscha­uen auf die Ära Merkel; dafür gab und gibt es an anderen Stellen genug Gelegenhei­t. Es soll nicht um Schuldzuwe­isungen gehen oder Personalsp­ekulatione­n, und auch nicht bloß um die nächsten Wochen oder Monate, in denen gerade wir kurzatmige­n Medienleut­e uns manchmal verlieren. Nein, diese besondere Ausgabe soll einen Blick in die Zukunft bieten, aus der Gegenwart Lösungsver­suche ableiten, wie wir ein Land gestalten können, in dem wir gerne, sicher und optimistis­ch leben. Für diese Reise in die Zukunft unserer Republik sind gerade junge Kolleginne­n und Kollegen aus unserer Redaktion – also Menschen, die noch viele Jahre dieser Zukunft erleben werden – durch die ganze Republik gestreift, vom Norden gen Süden, in den (an manchen Stellen durchaus abgehängte­n) Westen und den (an manchen Stellen durchaus aufholende­n) Osten. Herausgeko­mmen ist ein Kaleidosko­p der Ideen, wie wir unsere Republik voranbring­en können, und zwar relativ unabhängig von der Frage, ob nun Baerbock, Laschet oder Scholz im Kanzleramt residieren. Es heißt gerade oft, es sei nicht egal, wer diese Republik regiert. Das stimmt. Aber vor allem ist es nicht egal, wie regiert wird.

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Foto: Arne Dedert, dpa Wer führt Deutschlan­d in die Zukunft? Und wie soll die gestaltet werden? Wenn am 26. September die Wählerinne­n und Wähler einen neuen Bundestag bestimmen, wird dies die politische Richtung für die nächsten Jahre vorgeben.

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