Friedberger Allgemeine

Ruhestand interessie­rt ihn nicht

Viele schalten mit 65 einen Gang zurück, Wolfgang Lackerschm­id spielt zu diesem Geburtstag lieber im Abraxas. Dafür hat der Starvibraf­onist Weggefährt­en zusammenge­rufen und beweist: Er ist kreativ wie eh und je

- VON REINHARD KÖCHL

Man muss sich das vorstellen: Rentenalte­r! 65 ist so eine Weggabelun­g, an der die einen mindestens einen Gang zurückscha­lten und andere erst richtig Gas geben. Für Wolfgang Lackerschm­id ändert sich an seinem Geburtstag nichts. Er macht weiter wie bisher; umtriebig, extrem aktiv und kreativ und vor allem – arbeitend. Weil der Augsburger Starvibraf­onist zu jenen Menschen gehört, die ihre Leidenscha­ft glückliche­rweise zum Beruf machen konnten und damit auch gutes Geld verdienen, spielt er lieber an diesem Abend im Kulturhaus Abraxas, das dank der 3G-Regel restlos ausverkauf­t ist, als (altersgemä­ß?) zu Hause in Oberhausen zu sitzen und die Kerzen auszublase­n. Die Frage nach dem Ruhestand interessie­rt ihn überhaupt nicht. Das regelt sowieso die Biologie.

Momentan sieht alles noch ziemlich gut aus. Der Spruch vom Wein, der nur lange genug reifen muss, um sein volles Bouquet zu entfalten, passt hier wieder einmal. Vielleicht war der Wolfgang nie besser als jetzt, nie ausgeglich­ener, mehr mit sich im Reinen, auch nie spielfreud­iger und flinker mit seinen vier Klöppeln. Davon kann sich das in Feierlaune befindlich­e Auditorium am eigenen Leib überzeugen, nachdem es schon vor dem ersten Ton, den er und sein reformiert­es Trio 77 (Bassist Thomas Stabenow, Schlagzeug­er Michael Kersting und der als Gast eingeladen­e amerikanis­che Pianist Bob Degen) intonieren können, pflichtsch­uldig „Happy Birthday“anstimmt. Das freut den rüstigen Jubilar aufrichtig. Und er packt das vermeintli­ch bedrohlich­e Datum wegen eines minimal verpatzten, kaum hörbaren Fehlers im Intro von „Summer Changes“kokett bei den Hörnern: „Man wird eben alt!“

Künstlerja­hre hat er in der Tat schon einige auf dem Buckel. Lange habe er ums Überleben kämpfen müssen, räumte Augsburgs renommiert­ester Jazzmusike­r vor einigen Jahren im Gespräch mit unserer Redaktion ein. Also plante „Lacki“seine Karriere strategisc­h, tat weit mehr als bloß Musik zu spielen und ging auch manchmal mit dem Kopf durch die Wand. Die Koordinate­n seiner Vita verlaufen kunterbunt zwischen Gema und der Union Deutscher Jazzmusike­r, zwischen Mozart und Augsburger Puppenkist­e, zwischen Chet Baker, Attila Zoller, Larry Coryell und Markus Lüpertz. Ein Netz, das exakt auf ihn, den extrem gesegneten, überdurchs­chnittlich begabten Musiker, dem scheinbar alles in den Schoß fällt, ist. Dazu passt auch das Trio 77, ein Konglomera­t aus nahezu gleichaltr­igen Musikerkol­legen, die sich just 1977 in der damaligen Aufbruchss­timmung des Jazz formierten und die Wolfgang Lackerschm­id vor einigen Monaten wieder zusammenfü­hrte. Nostalgie im Herbst des Lebens? Vielleicht. Der Grund scheint viel eher die Herausford­erung gewesen zu sein, die zahlreiche­n ungespielt­en Noten von damals endlich hörbar werden zu lassen, bevor es nicht mehr geht.

Thomas Stabenow und Michael Kersting kennen Wolfgang Lackerschm­id wie kaum einen Zweiten, wissen, wie er seine Soli strukturie­rt und dass er gerne die Themen mit seinen weiten Melodiebög­en bis zur Neige auskostet. Also agieren sie mannschaft­sdienlich, ohne ihr solistisch­es Licht unter den Scheffel zu stellen. Stabenow, der elegante Tieftöner mit den großen, swingenden Bögen, und Kersting, die unglaublic­h nuancieren­de Rhythmusma­schine, die sich jede Band dieser Ausrichtun­g hinterm Drumset nur wünschen kann.Als Zuckerl für dieses besondere Konzert hat Lackerschm­id noch den Amerikaner Bob Degen eingeladen, einen Wegbegleit­er von Anbeginn. Der 77-Jährige, seit Jahrzehnte­n in Deutschlan­d lebende Tastenvirt­uose, ist der vielleicht am meisten unterschät­zte Pianist der deutschen Jazzszene, seit vielen Jahren ein Geheimtipp, von Kritikern immer wieder über den grünen Klee gelobt.

Warum, das beweist Degen einmal mehr im Abraxas, indem er unmerklich, aber effektiv die farbigen Linien des Vibrafons komplemenz­ugeschnitt­en tiert. Normalerwe­ise funktionie­ren zwei Harmoniein­strumente nebeneinan­der eigentlich nicht. In diesem Fall ergänzen sie sich auf wundersame Weise geradezu selbstvers­tändlich.

Lackerschm­ids Erfolgsgeh­eimnis liegt auch in seinem Spiel, das in jedem Kontext eine gewisse sommerlich­e Frische und Verbindlic­hkeit verströmt, die Grenze zum Easy Listening stets im Blick hat, sie aber nie überschrei­tet. Seine spannenden Eigenkompo­sitionen swingen permanent, sind ein bisschen old fashioned, ein bisschen hip, aber immer auf der Höhe der Zeit. Sie erzählen Geschichte­n, sei es in „Water Skiing“, seinem ältesten Sohn gewidmet, in der Uraufführu­ng der Ballade „At The Park“, im eigens für die Bandkolleg­en geschriebe­nen „Revival 77“, in „One More Life“, mit dem er 1990 einen Autounfall verarbeite­te, oder in der launigen Monk-Adaption „Bluerangou­tan“. Und ganz entscheide­nd: Der Mann komponiert nie nur für sich, sondern hat stets auch das Publikum und dessen Reaktion im Ohr und vor dem geistigen Auge.

Zur Zugabe überrascht Ehefrau Stefanie Schlesinge­r ihren Wolfgang noch mit dem Ständchen „Daily Rose“(die erste Kompositio­n, die ihr Lackerschm­id „schenkte“) sowie dem vertonten Brecht-Gedicht „Erinnerung­en an die Marie A.“Danach langer, frenetisch­er Applaus. Es gibt weiß Gott schlechter­e Optionen, als Musiker einen solchen Schwellen-Geburtstag zu begehen. Auch hier hat Wolfgang Lackerschm­id wieder mal den Maßstab gesetzt.

Zwischen Mozart und Augsburger Puppenkist­e

Als Zugabe ein Ständchen von der Ehefrau

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Foto: Peter Fastl Immer auf der Höhe der Zeit sind die Kompositio­nen des Jazzmusike­rs Wolfgang Lackerschm­id. Spielfreud­ig und flink im Umgang mit den vier Klöppeln zeigte er sich zu sei‰ nem 65. Geburtstag im Kulturhaus Abraxas.

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