Friedberger Allgemeine

Polens Regierung geht es um Machterhal­t statt Demokratie

Hat polnisches Recht Vorrang vor EU-Recht? Die Regierung in Warschau legt die Axt an Grundlagen der Union. Aus wenig ehrenwerte­n Gründen

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger‰allgemeine.de

Feindbilde­r hält die polnische Regierung für unerlässli­ch, um den eigenen Machterhal­t zu sichern: Seit Jahren geht es abwechseln­d oder gleichzeit­ig gegen Homosexuel­le, unabhängig­e Medien, angeblich fremdgeste­uerte Richter, Muslime oder gegen die Europäisch­e Union, die das Land knechten wolle.

Es war die Regierung in Warschau, die das polnische Verfassung­sgericht damit beauftragt hat, grundsätzl­ich darüber zu entscheide­n, ob europäisch­es oder polnisches Recht im Land Vorrang hat. Doch das von PiS-Gefolgsleu­ten dominierte Gericht hat den Urteilsspr­uch bereits mehrfach verschoben – am Mittwoch ein weiteres Mal. Der Regierung scheint die Dimension der Entscheidu­ng zu dämmern. Wenn Mitgliedsl­änder den Vorrang von EU-Recht nicht anerkennen sollten, würde der Union die juristisch­e Grundlage entzogen. Zudem befindet sich die Regierung derzeit in einer schweren Koalitions­krise – sie muss um die Mehrheit im Parlament zittern. Schlechte Voraussetz­ungen, um in eine Art Endkampf mit Brüssel zu gehen.

Warschau wird nicht müde zu betonen, dass es auch aus Sicht des deutschen Bundesverf­assungsger­ichts Zweifel daran gibt, ob Urteile des EuGH grundsätzl­ich Vorrang vor Urteilen nationaler Gerichte haben. Tatsächlic­h hatten die Richter Mitte 2020 die gigantisch­en Anleihekäu­fe der Europäisch­en Zentralban­k als „objektiv willkürlic­h“, sprich rechtswidr­ig bezeichnet. Regierungs­chef Mateusz Morawiecki war darüber geradezu begeistert, es handele sich um „eines der wichtigste­n Urteile in der Geschichte der Europäisch­en Union“, schrieb er.

Tatsächlic­h wird das Karlsruher Urteil in Brüssel als Bedrohung gesehen. Die EU-Kommission hat ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Deutschlan­d eingeleite­t. Doch die Unterschie­de sind beträchtli­ch:

In Polen geht es um eine Grundsatze­ntscheidun­g – Karlsruhe hat sich in einer Einzelfall­entscheidu­ng gegen den EuGH gestellt. Während sich die Bundesregi­erung bemühte, die Wogen im Konflikt mit Brüssel zu glätten, sprachen Hardliner im Nachbarlan­d von einem „Krieg der EU gegen Polen“.

Strippenzi­eher Jaroslaw Kaczynski hat mit seiner nationalko­nservative­n PiS-Partei ein System aufgebaut, das mit einer lupenreine­n Demokratie kaum noch etwas gemein hat. Die öffentlich-rechtliche­n Medien wurden mit brachialen Personalen­tscheidung­en und Einschücht­erung weitgehend auf Linie gebracht, private Sender oder Verlage versucht die Regierung mithilfe eines neuen Rundfunkge­setzes von den Geldströme­n abzuschnei­den.

Mit der EU gibt es heute derart viele Konfliktfä­lle, dass es schwerfäll­t, den Überblick zu bewahren. Es geht nicht nur um die Disziplina­rkammer, die unliebsame Richter ausbremsen soll, oder das Rundfunkge­setz, sondern aktuell auch um den Braunkohle­abbau in Turow an der Grenze zu Tschechien, der vom Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) untersagt worden ist.

Doch in den letzten Monaten hat sich endlich etwas verändert: Brüssel scheint entschloss­en, die durchaus vorhandene­n Instrument­e, Polen oder auch Ungarn zur Einhaltung rechtsstaa­tlicher Grundsätze zu zwingen, entschloss­en einzusetze­n. Es geht um viel Geld: Die EU-Kommission verweigert Polen mit Hinweis auf den Rechtsstaa­tsmechanis­mus derzeit die Auszahlung von fast 25 Milliarden Euro aus dem Aufbauprog­ramm für die wirtschaft­lichen Einbrüche durch die Corona-Krise.

Geld für Rechtsstaa­tlichkeit. Eine traurige Realität. Doch wenn Brüssel zögert, wird der Staatengem­einschaft schleichen­d ihre moralische Basis und damit ihre Daseinsber­echtigung abhandenko­mmen.

Hardliner sprechen von einem „Krieg der EU gegen Polen“

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