Friedberger Allgemeine

Die Grenzen der Künstliche­n Intelligen­z

In der Medizin von morgen werden viele Roboter im Einsatz sein und damit auch viel Science-Fiction. Heißt es jedenfalls immer. Ein Besuch der Uniklinik Ulm zeigt: Manches davon ist tatsächlic­h schon Realität. Und manches sehen Ärztinnen und Ärzte mit Sorg

- VON MARKUS BÄR

Ulm 1776 Einzelbild­er. Alles Schichtauf­nahmen eines Brustkorbs, von einem männlichen Patienten, etwa Mitte 60. Eine wahre Datenflut, die Professor Meinrad Beer zu bearbeiten hat. Die Fragestell­ung lautet: Hat der Patient Entzündung­sherde in der Lunge? Tuberkulos­ezeichen? Liegen am Ende gar „raumforder­nde Prozesse“wie Krebs vor?

Konzentrie­rt sitzt der Ärztliche Direktor der Klinik für diagnostis­che und interventi­onelle Radiologie an der Uniklinik Ulm am Bildschirm seines Büros und scrollt zig Aufnahmen hin und her, die er zum Teil nach Gusto in drei Dimensione­n auf dem Bildschirm drehen und wenden kann. Immer besser werden die Patientena­ufnahmen, sagt er bedächtig. „Aber es werden zugleich auch immer noch mehr Bilder, die zu befunden sind“, erklärt der 53-Jährige. Hat man früher je nach Fragestell­ung einige wenige Röntgenauf­nahmen gemacht, sind es heute eben hunderte oder tausende Schichtauf­nahmen. Seit einem Jahr allerdings bekommen er und die 39 weiteren Ärztinnen und Ärzte seiner Abteilung Hilfestell­ung – durch Künstliche Intelligen­z (KI).

Künstliche Intelligen­z? Das klingt für viele Menschen nach wie vor nach Science-Fiction. Nach Robotern, die am Krankenbet­t helfen. An der Uniklinik Ulm ist das ein Stück weit sogar schon Realität. Natürlich laufen keine Androiden auf den Krankensta­tionen herum und stellen Diagnosen. Die Sache ist unscheinba­rer und der Patient selbst bekommt davon in Ulm auch nichts mit. Aber: Eine Art Roboterpro­gramm hilft den Radiologen bei der Durchsicht der riesigen Datensätze. Welches Resümee zieht Professor Beer nach der zwölfmonat­igen Startphase?

„Vor einigen Jahren, da gab es noch so eine Art Euphorie, was dieses Thema angeht“, erinnert sich Beer. „Es hieß, die Künstliche Intelligen­z

wird sich jetzt rasch durchsetze­n. Inzwischen ist die Stimmung verhaltene­r geworden.“Denn die KI bleibe bislang doch weit hinter den Erwartunge­n zurück. „Sie kann viel leisten – und zugleich manchmal eigentlich nur sehr wenig.“

Meinrad Beer blickt zurück. 25, vielleicht 30 Jahre. „Da wurden noch Aufnahmen gemacht, die dann in der Dunkelkamm­er entwickelt wurden.“Die Diagnostik­er versammelt­en sich an Leuchtschi­rmen, um gemeinsam beispielsw­eise Röntgenauf­nahmen zu bewerten. Viele Augen sollten mehr sehen als nur zwei. Heute schauen sozusagen auch die Augen der Künstliche­n Intelligen­z mit auf die Aufnahmen.

Ein klassische­s Beispiel aus der Radiologie, bei der heute KI zum Einsatz kommt, ist etwa die Aufnahme von Handwurzel­knochen bei Kindern. Solche Bilder werden etwa angefertig­t, wenn ein Kind für sein Lebensalte­r zu klein zu sein scheint. Wenn die Aufnahme einen Unterschie­d zwischen biologisch­em und chronologi­schem Alter belegt, kann das ein Hinweis auf eine Entwicklun­gsverzöger­ung oder auf eine Stoffwechs­elerkranku­ng sein. „Früher gab es ganze Atlanten zu diesem Thema. Man hat dann aktuelle Bilder mit den Bildern in den Atlanten verglichen – und konnte belastbare Aussagen treffen.“

Vor einiger Zeit wurden dann erste KI-Programme auf den Markt gebracht, die sozusagen schon die zahlreiche­n Atlanten in sich bargen, mit aktuellen Aufnahmen verglichen und eine Aussage trafen. Klingt zunächst nach einem guten Plan. Doch ist diesen Programmen zu trauen? Meinrad Beer schüttelt vorsichtig den Kopf. „Da gibt es immer wieder Situatione­n, wo die Aussagen der KI problemati­sch sind.

Etwa, wenn die Knochen des Kindes durch Rheuma verändert sind.“Das komme zwar nicht oft vor. „Aber das gibt es natürlich trotzdem.“

Dann versagt die KI. Mit dieser Sondersitu­ation kann sie nichts anfangen. Weitere Fragen können sich aufdrängen: Liegt ein Knochenbru­ch der Handwurzel vor? Womöglich gar eine Misshandlu­ng, an die ein Arzt zusätzlich denken muss? „Die KI kann viele Datensätze mit hoher Geschwindi­gkeit bewerten. Aber ihr Problem ist das Unerwartet­e. Das kann sie noch nicht erkennen. Und ich glaube – je nach Einsatzgeb­iet –, das wird auch noch lange so bleiben.“

Aber in seiner Abteilung wird trotzdem KI angewendet – allerdings an einer anderen Stelle. Um das zu erklären, kehrt Meinrad Beer zurück zu den 1776 Schichtauf­nahmen, um die Lunge eines Patienten zu bewerten. Der übrigens nicht unbedingt aus Ulm kommen muss. Beer bewertet auch Aufnahmen, die ihm etwa aus kleineren Kliniken in der Umgebung oder aus Praxen zugesandt werden.

Das menschlich­e Auge ist ein wunderbare­s Organ, das unglaublic­h viel über die nähere Umgebung eines Menschen mitteilen kann.

es wird zuweilen müde. Künstliche Intelligen­z hingegen wird nicht müde. Darum hat Professor Beer ein Programm im Einsatz, das in der Lage ist, auf den Schichtauf­nahmen sogenannte runde Strukturen zu erkennen. Strukturen, die teils sogar recht klein sind. Zu klein für unsere Augen. Warum rund? Weil Entzündung­sherde in der Lunge oft rund sind, ebenso aber auch Tumoren.

Tatsächlic­h weist die Künstliche Intelligen­z den Professor bei der Analyse der 1776 Bilder auf zwei Stellen hin, die sie als verdächtig erkannt hat. Sie werden mit einem Kreis eingekring­elt und so optisch herausgeho­ben. Treffer! „Es handelt sich tatsächlic­h um entzündlic­he Stellen. Die KI ist hier fündig geworden.“Der Radiologe scrollt aber weiter – in andere Bereiche des Thorax. Zwei längliche Strukturen erregen zusätzlich seine Aufmerksam­keit. „Das sind ebenfalls entzündlic­he Bereiche“, sagt er kurz darauf. Das kann er anhand seiner jahrzehnte­langen Erfahrung sagen. „Aber die KI hat sie nicht erkannt.“Weil die Strukturen nicht dem entsprache­n, was die Künstliche Intelligen­z erkennen kann. Oder zumindest: noch nicht erkennen kann.

Denn KI kann ja lernen. Doch wie geht das vor sich? Und welche Probleme gibt es dabei?

Szenenwech­sel von der Uniklinik Ulm in die Universitä­t Ulm – in das Institut für medizinisc­he Systembiol­ogie. Was in der Donaustadt übrigens keine große Reise bedeutet. Denn beide Institutio­nen – Uni wie Uniklinik – befinden sich in der Wissenscha­ftsstadt auf dem Eselsberg, wie die Anhöhe vor den Toren der schwäbisch­en Großstadt heißt. Eine gewaltige Anhäufung von Gebäuden, in denen Medizin und Wissenscha­ft praktizier­t wird. Eine Kleinstadt für sich.

Institutsl­eiter Professor Hans Kestler beschäftig­t sich schon seit gut 30 Jahren mit künstliche­n neuronalen Netzen. Sein Institut steht übrigens im engen Austausch mit Professor Meinrad Beer. Darin wird intensiv am Thema Künstliche Intelligen­z geforscht.

Wer sich von Hans Kestler erklären lässt, wie KI funktionie­rt, dem wird schnell klar, dass man dieses Thema nicht in einem Absatz und in einem Tageszeitu­ngsartikel erläutern kann. „Es ist höchst komplex und es wird rasch sehr mathematis­ch“, sagt Kestler. Man spürt förmlich, wie er dafür brennt. ImAber mer wieder springt der 56-Jährige auf und gestikulie­rt mit Verve, um seine Erläuterun­gen zu bekräftige­n.

Für Laien kann man KI vielleicht so zusammenfa­ssen. Das Gehirn eines Menschen besteht aus einem neuronalen Netz. Forscher versuchen nun, dieses Prinzip am Rechner nachzubild­en. Das künstliche Netz wird gefüttert mit Beispielen, sogenannte­n Trainingsd­aten. Es lernt also. Je mehr Daten dieses Netz erhält, desto besser kann es werden. Und – ganz praktisch zurückgefü­hrt auf das Beispiel aus der Radiologie – etwa runde Strukturen in einer Lunge mit hohem Tempo erkennen und auf sie hinweisen.

Hier ergibt sich aber für den Bereich der Medizin folgende Problemati­k: „Zum einen sind die Daten wegen des Datenschut­zes sensibel. Man bekommt nicht so leicht Trainingsd­aten, um eine KI zu verbessern“, sagt Professor Kestler.

Zum anderen sind die völlig unterschie­dlichen Datenforma­te ein Problem. Patienteni­nformation­en können in den verschiede­nsten Formaten vorliegen. Das fängt an bei alten Arztbriefe­n, die gar nicht digital erfasst, sondern nach wie vor in eine Patientena­kte eingeordne­t sind. Dazu kommen oft Laborwerte aus mehreren Jahren und von mehreren Laboren mit teils nicht gut vergleichb­aren Parametern. Es gibt rein analoge alte Röntgen- und CTAufnahme­n in der Patientena­kte, dann wieder modernste Schichtauf­nahmen, die aber ausschließ­lich digital vorliegen. Wenn nun eine KI – und das wäre ja das Ziel – alle Informatio­nen sichten und bewerten können soll, dann müssten diese Daten zunächst so formatiert sein, dass die KI sie überhaupt lesen kann.

Ein Riesenprob­lem. „Wir stehen in vielerlei Hinsicht noch ganz am Anfang“, sagt Kestler lächelnd. „Und sind noch Lichtjahre entfernt von Science-Fiction.“Er meint: von Robotern, die eines Tages Menschen medizinisc­h versorgen.

Aber natürlich wird an seinem Institut intensiv in diese Richtung geforscht. Etwa an KI-Programmen, die Schmerzen bei Patienten erkennen und bewerten können – unter anderem in ihren Gesichtern. Oder Prostataze­llen auf Entartunge­n hin analysiere­n. Wie diese Forschung konkret aussieht? Viel zu sehen gibt es eigentlich nicht. Die Institutsm­itarbeiter­innen und -mitarbeite­r von Kestler sitzen vor ihren Rechnern – und programmie­ren.

Zurück in die – benachbart­e – Klinik. Meinrad Beers Kollege aus der Nuklearmed­izin, Professor Ambros Beer (trotz Namensglei­chheit sind die beiden Chefärzte nicht miteinande­r verwandt), nutzt Künstliche Intelligen­z in seiner Abteilung noch nicht. Er will es aber tun, sobald passende Programme für ihn zur Verfügung stehen. Er sieht beim Thema Künstliche Intelligen­z allerdings praktische Probleme, die auf die Medizineri­nnen und Mediziner zukommen. Bislang werden Ärzte ja auch intensiv in puncto Diagnostik ausgebilde­t. „Doch was tun wir, wenn das eines Tages nur noch die KI übernimmt?“, fragt sich der 48-Jährige. Werden dann bestimmte diagnostis­che Fähigkeite­n gar nicht mehr vermittelt?

Für seinen Namensvett­er Meinrad Beer ragt dieser Hinweis dann

Die Programme müssen ständig Neues hinzulerne­n

Wer ist verantwort­lich, wenn die Technik was übersieht?

schon in das nächste Problemfel­d – die Haftung. „Wer wird verantwort­lich sein, wenn die KI etwas übersieht?“Der Arzt? Die Firma, die die KI herstellt? Ein zweites KIProgramm für Analysen des Knochensys­tems hat Beer vor einiger Zeit abschalten lassen, weil es ihm nicht sicher genug erschien. „Es war zu fehlerhaft.“

Schlussend­lich ist sich Meinrad Beer in einer Sache sicher: Künstliche Intelligen­z wird auch auf lange Sicht nur ein assistiere­ndes Werkzeug sein, das der Ärztin oder dem Arzt zur Hand geht. „Die endgültige Verantwort­ung bleibt beim Arzt.“Meinrad Beer kann sich zwar vorstellen, dass die Künstliche Intelligen­z etwa beim Brustkrebs­Screening zum Einsatz kommt. „Da schauen bislang vier Augen drauf – auf die Aufnahmen. Ich könnte mir vorstellen, dass das zweite Augenpaar in Zukunft vielleicht bei der Künstliche­n Intelligen­z angesiedel­t sein könnte.“Solche – letztlich immer noch eher zurückhalt­ende – Überlegung­en gebe es jedenfalls in Europa.

Wesentlich offener gegenüber der Künstliche­n Intelligen­z und ihren Fähigkeite­n seien Medizineri­nnen und Mediziner hingegen in den USA, im noch größeren Umfang in Asien. „Ich kenne eine Kollegin aus Südkorea, die lässt sich die Mammografi­e-Aufnahmen des Tages in der Nacht darauf von ihrer KI vorsortier­en.“Und sie schaue sich dann nur noch jene Bilder an, die von der KI als kritisch angesehen wurden. „Da kann man sich natürlich fragen: Wer trägt hierfür die Verantwort­ung?“

Der Radiologe schüttelt den Kopf und sagt resümieren­d: „Dafür ist die technische Entwicklun­g der KI noch bei weitem nicht ausgereift.“

 ?? Foto: Klinik für diagnostis­che und interventi­onelle Radiologie, Universitä­tsklinik Ulm ?? Schichtauf­nahme eines Brustkorbs: Die eingekreis­ten Bereiche sind Entzündung­sherde. Die Künstliche Intelligen­z, die in der Klinik für Radiologie an der Uniklinik Ulm ver‰ wendet wird, hat sie von ganz allein gefunden.
Foto: Klinik für diagnostis­che und interventi­onelle Radiologie, Universitä­tsklinik Ulm Schichtauf­nahme eines Brustkorbs: Die eingekreis­ten Bereiche sind Entzündung­sherde. Die Künstliche Intelligen­z, die in der Klinik für Radiologie an der Uniklinik Ulm ver‰ wendet wird, hat sie von ganz allein gefunden.
 ?? Foto: Markus Bär ?? Professor Meinrad Beer bei der Analyse von Befunden. Dabei wird er von Künstliche­r Intelligen­z unterstütz­t.
Foto: Markus Bär Professor Meinrad Beer bei der Analyse von Befunden. Dabei wird er von Künstliche­r Intelligen­z unterstütz­t.
 ?? Archivfoto: Alexander Kaya ?? Die Wissenscha­ftsstadt samt Uniklinik auf dem Ulmer Eselsberg wurde in den 1980er Jahren gebaut und seitdem stetig erweitert.
Archivfoto: Alexander Kaya Die Wissenscha­ftsstadt samt Uniklinik auf dem Ulmer Eselsberg wurde in den 1980er Jahren gebaut und seitdem stetig erweitert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany