Mörderische Verschwörungstheorien
Die Bluttat von Idar-Oberstein wirft Fragen nach der Gefahr aggressiver Corona-Leugner und rechtsextremer Internetgruppen auf. Die Sicherheitsbehörden warnen vor einer zunehmenden Radikalisierung sogenannter Querdenker
Berlin/München Den Tatort an der Tankstelle in Idar-Oberstein kennt auch Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner gut. Er liegt im Wahlkreis der Politikerin, die CDU-Landesvorsitzende von Rheinland-Pfalz ist. Wie sehr viele in Deutschland ist auch Klöckner tief erschüttert über den Mord an dem 20-jährigen Studenten, der als Aushilfskraft in der Tankstelle gejobbt hat, um sich seinen Führerschein zu finanzieren. Schier unglaublich sei es, dass der junge Mitarbeiter habe sterben müssen, weil er nichts anderes verlangt habe, dass jeder, der die Tankstelle betrete, Mund-und-Nasen-Schutz tragen solle, sagte Klöckner. „Mich treibt auch um, wie radikalisiert extreme Sichtweisen sein können und wozu sie führen können.“
Tatsächlich gibt nicht nur das Geständnis des wegen Mordes festgenommnen 49-jährigen Mario N. Einblick in eine gefährliche Radikalisierung des Täters. Das gemeinnützige „Center für Monitoring, Analyse und Strategie“forscht seit Jahren über Verschwörungstheorien, insbesondere im Bereich des Rechtsextremismus. Das Expertenteam hat N. schnell identifiziert und seine verschiedenen Twitterkonten untersucht. Demnach hatte der 49-Jährige ein klares Weltbild. Der
Softwareentwickler N. machte dabei Aussagen wie „Ich freue mich auf den nächsten Krieg“, teilte zahlreiche Botschaften der AfD, rechter Medien und bezeichnete den Klimawandel als Lüge, setzte unter Donald Trumps Tweets zustimmende Smileys und attackierte die Flüchtlingspolitik. In seinem letzten Tweet auf einem Profil schrieb er: „Gnade denen, welche diese Situation heraufbeschworen haben. Oder nein, Gnade wäre unrecht.“
Vor Beginn der Pandemie verlagerte N. seine Netzaktivitäten in den geschlossenen Bereich des Messengerdienstes Telegram. Dort, so heißt es in Ermittlerkreisen, sei der 49-Jährige in den Theorien der Corona-Leugner „bewandert“gewesen, und er habe auch illegal mehrere scharfe Schusswaffen besessen.
Am Samstagabend hatte er sich zunächst mit dem Tankstellenmitarbeiter gestritten, als er ohne Maske Bier kaufen wollte. Als er wenig später erneut in die Tankstelle kam und ihn der Student erneut auf die Maskenpflicht hinwies, schoss N. ihm ohne Vorwarnung aus kurzer Distanz in den Kopf. Der 20-Jährige war sofort tot.
Unklar ist, ob der 49-Jährige selbst der sogenannten „Querdenken“-Szene angehörte. Auf Telegram feierten jedoch Corona-Leugner und Rechtsextremisten seine Tat: „Es herrscht Krieg für mich, da wird nicht mehr diskutiert. Weg mit 3G oder Bürgerkrieg – dafür stehe ich mit Leib und meinem Leben“, heißt es dort, oder auch „Gut so“, „Kein Mitleid“.
Im Bund und auch in Bayern stehen Teile der „Querdenker“-Szene unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. „Einzelne Akteure der Querdenker-Szene werden beobachtet, weil sie dem Rechtsextremismus oder der Szene der sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter zugerechnet werden“, sagte Innenminister Joachim Herrmann unserer Redaktion. „Es ist klar erkennbar, dass manche die Funktionsfähigkeit des Staates erheblich zu beeinträchtigen versuchen und dass auch Straftaten vorliegen“, sagte er mit Blick auf Gewaltaufrufe und Sabotageaktionen. „Mehrfach haben wir in letzter Zeit außerdem Versuche erlebt, die Wahlkampfveranstaltungen verschiedener Parteien massiv zu stören“, so Herrmann. „Wir werden nicht nur weiterhin entschieden klarmachen, dass Hass und Gewalt in unserem Land keinen Millimeter Platz haben, wir werden auch mit aller Härte des Rechtsstaats gegen alle vorgehen, die die Grenzen einer demokratischen Auseinandersetzung überschreiten.“
Matthias Pöhlmann, der Sektenbeauftragte der evangelischen Kirche
in Bayern, war als Beobachter auf Demonstrationen der „Querdenker“und berichtete am Mittwoch im Gespräch von einem ausgesprochenen „Hasspotenzial“, welches er dort erlebt habe. „Die Aggressivität ist im Laufe der Pandemie noch gestiegen“, so Pöhlmann. „Ein geistiger Brandstifter wie Bodo Schiffmann, eine Führungsfigur der Corona-Leugner-Szene, spricht von Gerichtsprozessen, bei denen Befürworter der staatlichen Anti-CoronaMaßnahmen zur Rechenschaft gezogen werden sollen.“Mit einer seiner Formulierungen – „Nürnberg 2.0“– sei eine höchst problematische Eskalationsstufe erreicht.
Auch dass sich der Todesschütze in rechten Medienblogs bewegt habe, wertete der Experte als Teil einer gefährlichen Entwicklung. „Wer sich nur noch in Alternativmedien oder verschwörungsideologischen Telegram-Kanälen informiert, nimmt irgendwann vieles für bare Münze, was er dort liest“, sagte er. „Die Botschaft, die immer wieder verbreitet wird, lautet: Alles ist Lüge, es gibt einen geheimen Plan der Regierung, um Menschen zu unterdrücken. So wird ein Bedrohungsszenario erzeugt, das Einzelnen das Gefühl geben kann, sie müssten sich zur Wehr setzen“, warnte Matthias Pöhlmann. „Dieses Denken hat schon in vielen Köpfen Einzug gehalten, gerade auch bei Querdenkern.“