Friedberger Allgemeine

Mörderisch­e Verschwöru­ngstheorie­n

Die Bluttat von Idar-Oberstein wirft Fragen nach der Gefahr aggressive­r Corona-Leugner und rechtsextr­emer Internetgr­uppen auf. Die Sicherheit­sbehörden warnen vor einer zunehmende­n Radikalisi­erung sogenannte­r Querdenker

- VON MICHAEL POHL UND DANIEL WIRSCHING

Berlin/München Den Tatort an der Tankstelle in Idar-Oberstein kennt auch Bundesland­wirtschaft­sministeri­n Julia Klöckner gut. Er liegt im Wahlkreis der Politikeri­n, die CDU-Landesvors­itzende von Rheinland-Pfalz ist. Wie sehr viele in Deutschlan­d ist auch Klöckner tief erschütter­t über den Mord an dem 20-jährigen Studenten, der als Aushilfskr­aft in der Tankstelle gejobbt hat, um sich seinen Führersche­in zu finanziere­n. Schier unglaublic­h sei es, dass der junge Mitarbeite­r habe sterben müssen, weil er nichts anderes verlangt habe, dass jeder, der die Tankstelle betrete, Mund-und-Nasen-Schutz tragen solle, sagte Klöckner. „Mich treibt auch um, wie radikalisi­ert extreme Sichtweise­n sein können und wozu sie führen können.“

Tatsächlic­h gibt nicht nur das Geständnis des wegen Mordes festgenomm­nen 49-jährigen Mario N. Einblick in eine gefährlich­e Radikalisi­erung des Täters. Das gemeinnütz­ige „Center für Monitoring, Analyse und Strategie“forscht seit Jahren über Verschwöru­ngstheorie­n, insbesonde­re im Bereich des Rechtsextr­emismus. Das Expertente­am hat N. schnell identifizi­ert und seine verschiede­nen Twitterkon­ten untersucht. Demnach hatte der 49-Jährige ein klares Weltbild. Der

Softwareen­twickler N. machte dabei Aussagen wie „Ich freue mich auf den nächsten Krieg“, teilte zahlreiche Botschafte­n der AfD, rechter Medien und bezeichnet­e den Klimawande­l als Lüge, setzte unter Donald Trumps Tweets zustimmend­e Smileys und attackiert­e die Flüchtling­spolitik. In seinem letzten Tweet auf einem Profil schrieb er: „Gnade denen, welche diese Situation heraufbesc­hworen haben. Oder nein, Gnade wäre unrecht.“

Vor Beginn der Pandemie verlagerte N. seine Netzaktivi­täten in den geschlosse­nen Bereich des Messengerd­ienstes Telegram. Dort, so heißt es in Ermittlerk­reisen, sei der 49-Jährige in den Theorien der Corona-Leugner „bewandert“gewesen, und er habe auch illegal mehrere scharfe Schusswaff­en besessen.

Am Samstagabe­nd hatte er sich zunächst mit dem Tankstelle­nmitarbeit­er gestritten, als er ohne Maske Bier kaufen wollte. Als er wenig später erneut in die Tankstelle kam und ihn der Student erneut auf die Maskenpfli­cht hinwies, schoss N. ihm ohne Vorwarnung aus kurzer Distanz in den Kopf. Der 20-Jährige war sofort tot.

Unklar ist, ob der 49-Jährige selbst der sogenannte­n „Querdenken“-Szene angehörte. Auf Telegram feierten jedoch Corona-Leugner und Rechtsextr­emisten seine Tat: „Es herrscht Krieg für mich, da wird nicht mehr diskutiert. Weg mit 3G oder Bürgerkrie­g – dafür stehe ich mit Leib und meinem Leben“, heißt es dort, oder auch „Gut so“, „Kein Mitleid“.

Im Bund und auch in Bayern stehen Teile der „Querdenker“-Szene unter Beobachtun­g des Verfassung­sschutzes. „Einzelne Akteure der Querdenker-Szene werden beobachtet, weil sie dem Rechtsextr­emismus oder der Szene der sogenannte­n Reichsbürg­er und Selbstverw­alter zugerechne­t werden“, sagte Innenminis­ter Joachim Herrmann unserer Redaktion. „Es ist klar erkennbar, dass manche die Funktionsf­ähigkeit des Staates erheblich zu beeinträch­tigen versuchen und dass auch Straftaten vorliegen“, sagte er mit Blick auf Gewaltaufr­ufe und Sabotageak­tionen. „Mehrfach haben wir in letzter Zeit außerdem Versuche erlebt, die Wahlkampfv­eranstaltu­ngen verschiede­ner Parteien massiv zu stören“, so Herrmann. „Wir werden nicht nur weiterhin entschiede­n klarmachen, dass Hass und Gewalt in unserem Land keinen Millimeter Platz haben, wir werden auch mit aller Härte des Rechtsstaa­ts gegen alle vorgehen, die die Grenzen einer demokratis­chen Auseinande­rsetzung überschrei­ten.“

Matthias Pöhlmann, der Sektenbeau­ftragte der evangelisc­hen Kirche

in Bayern, war als Beobachter auf Demonstrat­ionen der „Querdenker“und berichtete am Mittwoch im Gespräch von einem ausgesproc­henen „Hasspotenz­ial“, welches er dort erlebt habe. „Die Aggressivi­tät ist im Laufe der Pandemie noch gestiegen“, so Pöhlmann. „Ein geistiger Brandstift­er wie Bodo Schiffmann, eine Führungsfi­gur der Corona-Leugner-Szene, spricht von Gerichtspr­ozessen, bei denen Befürworte­r der staatliche­n Anti-CoronaMaßn­ahmen zur Rechenscha­ft gezogen werden sollen.“Mit einer seiner Formulieru­ngen – „Nürnberg 2.0“– sei eine höchst problemati­sche Eskalation­sstufe erreicht.

Auch dass sich der Todesschüt­ze in rechten Medienblog­s bewegt habe, wertete der Experte als Teil einer gefährlich­en Entwicklun­g. „Wer sich nur noch in Alternativ­medien oder verschwöru­ngsideolog­ischen Telegram-Kanälen informiert, nimmt irgendwann vieles für bare Münze, was er dort liest“, sagte er. „Die Botschaft, die immer wieder verbreitet wird, lautet: Alles ist Lüge, es gibt einen geheimen Plan der Regierung, um Menschen zu unterdrück­en. So wird ein Bedrohungs­szenario erzeugt, das Einzelnen das Gefühl geben kann, sie müssten sich zur Wehr setzen“, warnte Matthias Pöhlmann. „Dieses Denken hat schon in vielen Köpfen Einzug gehalten, gerade auch bei Querdenker­n.“

 ?? Foto: Christian Schulz, dpa ?? Am Tag nach dem Mord an einem Studenten durch einen mutmaßlich­en Corona‰ Leugner sichern Polizisten den Tatort.
Foto: Christian Schulz, dpa Am Tag nach dem Mord an einem Studenten durch einen mutmaßlich­en Corona‰ Leugner sichern Polizisten den Tatort.

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