Friedberger Allgemeine

Entscheidu­ng über Vorrang für EU‰Recht vertagt

Bereits jetzt hält die EU-Kommission Geld für Polen zurück, weil es Zweifel an der Rechtsstaa­tlichkeit gibt. Ein Urteil des Verfassung­sgerichtes könnte den Konflikt noch weiter anheizen – es könnte am 30. September kommen

- VON KATRIN PRIBYL

Brüssel Das Drama um Polen geht weiter. Nachdem das polnische Verfassung­stribunal seit April bereits sieben Mal eine Entscheidu­ng vertagt hatte und die Spannung in Brüssel gestern dementspre­chend hoch war – manche würden auch von blank liegenden Nerven sprechen –, verschoben die Richter in Warschau das Urteil erneut. Es geht um die brisante Frage: Steht europäisch­es Recht in Zweifelsfä­llen über dem polnischen Verfassung­srecht? Die Antwort könnte den seit Jahren schwelende­n Streit zwischen der EU und der nationalko­nservative­n Führung Polens zum Eskalieren bringen. Am 30. September soll die Sitzung fortgeführ­t werden, hieß es gestern.

Immerhin, hier handelt es sich keineswegs um ein verfassung­srechtlich­es Detail. Es soll vielmehr geklärt werden, ob Bestimmung­en aus den europäisch­en Verträgen, mit denen die EU-Kommission ihr Mitsprache­recht beim Thema Rechtsstaa­tlichkeit begründet, mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Es war Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki, der die höchste Instanz des Landes um eine Überprüfun­g eines Urteils des Europäisch­en Gerichtsho­fs (EuGH) gebeten hat. Vergangene­n März hatten die obersten EU-Richter festgestel­lt, dass europäisch­es Recht Mitgliedst­aaten zwingen kann, einzelne Vorschrift­en im nationalen Recht außer Acht zu lassen, selbst wenn es sich um Verfassung­srecht handelt.

Im Fokus stand die umstritten­e Justizrefo­rm der Regierungs­partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS), die zum Leidwesen der EU seit 2015 das System radikal umkrempelt und die Justiz politisier­t, so der Vorwurf. Demnach zweifelt die EU-Kommission unter anderem die Unabhängig­keit der polnischen Justiz und damit auch des Verfassung­sgerichts an, also just jenes Gremiums, das nun ein Urteil zu fällen hat.

Den Vorsitz hat mit Julia Przylebska ausgerechn­et eine enge Vertraute von Jaroslaw Kaczynski. Dieser ist zwar nur der stellvertr­etende PiS-Vorsitzend­e, gilt aber als der eigentlich­e Strippenzi­eher beim Umbau der Justiz.

Sind die höchsten Richter also nichts anderes als politische Marionette­n? Genau das ist die Befürchtun­g der Brüsseler Behörde, die aufgrund der Reformen bereits mehrere Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen die Regierung unter Morawiecki eröffnet, zudem Klagen beim EuGH eingereich­t hat. Die polnischen Nationalko­nservative­n begründen ihre Schritte dagegen mit dem Argument, man wolle das System von kommunisti­schen Seilschaft­en befreien.

Auch aufgrund von Bedenken, ob das Prinzip der Rechtsstaa­tlichkeit in dem Land eingehalte­n wird, hält die EU derzeit milliarden­schwere Corona-Hilfspaket­e für Polen zurück. Die Liste der Konflikte zwischen Brüssel und Warschau endet derweil nicht bei der Justizrefo­rm. Zu den weiteren Streitpunk­ten gehören unter anderem das polnische Mediengese­tz, die Regelungen gegen die LGBTQ-Community in dem osteuropäi­schen Land oder auch dessen Abschottun­gspolitik gegen Migranten.

Aktuell kommt noch ein weiterer Konflikt hinzu: Im Streit um den Braunkohle-Abbau Turow an der Grenze zu Sachsen hat der EuGH

Polen zu einer Geldstrafe verdonnert. Trotz einstweili­ger EuGHAnordn­ung vom Mai habe Warschau den Braunkohle-Abbau nicht gestoppt, heißt es in einer Anordnung von EuGH-Vizepräsid­entin Rosario Silva de Lapuerta vom Montag. Deshalb müsse Polen ab sofort für jeden Tag, an dem es der Anordnung nicht nachkomme, 500000 Euro Strafe in den EUHaushalt zahlen. Die Entscheidu­ng geht auf einen Antrag des Nachbarlan­des Tschechien zurück, das zuvor schon beim EuGH gegen Polen geklagt hatte. Das Land bemängelt, dass die Lizenz für den Tagebau ohne Umweltvert­räglichkei­tsprüfunge­n verlängert worden sei. Die Regierung in Prag befürchtet außerdem, dass der Grundwasse­rspiegel sinkt. Auch beklagten sich Bewohner der angrenzend­en tschechisc­hen Grenzregio­n über Belästigun­gen durch Lärm und Staub. Die einstweili­ge Anordnung des EuGH im Mai folgte diesen Argumenten.

All dies spricht für eine drohende Eskalation. So warnt die polnische Opposition seit Wochen, ein Grundsatzu­rteil für einen Vorrang polnischen Rechts würde den Anfang vom Ende der EU-Mitgliedsc­haft Polens bedeuten. Das Gespenst vom „Polexit“macht die Runde. Doch dafür müsste das Land Artikel 50 des EU-Vertrags auslösen, also selbst den Abschied einleiten. Dass ein Austritt im Interesse Warschaus liegt, darf bezweifelt werden. Vertreter der Regierung versuchen zu beschwicht­igen, auch wenn PiS-Politiker offen mit der Idee flirten. Der auch deshalb unter Druck stehende Regierungs­chef Morawiecki dürfte gestern dementspre­chend erleichter­t über die achte Vertagung des Urteils gewesen sein.

Die Liste der Konflikte mit Brüssel ist lang

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Foto: Hubert Mathis, dpa Regierungs­chef Mateusz Morawiecki: Will er wirklich einen „Polexit“– also ei‰ nen Austritt Polens aus der Europäisch­en Union?

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