Friedberger Allgemeine

Evergrande verschafft sich etwas Luft

Der chinesisch­e Immobilien­konzern hat eine erste Einigung zur Zahlung der ausstehend­en Millionenb­eträge gefunden. Doch die nächsten Raten sind bald fällig – und an eine Rettung des Unternehme­ns glauben nur wenige

- VON FABIAN KRETSCHMER

Peking Als kaum jemand mehr an die Zukunft von Evergrande glaubt, greift Unternehme­nsgründer Xu Jiayin in seiner Privatresi­denz in Shenzhen in die Tasten seines Laptops. An sämtliche gut 130000 Angestellt­e seines Unternehme­ns schickt der 62-Jährige zu Beginn des Mondfestes eine Sammelmail, die vor Chuzpe nur so strotzt: „Ich glaube fest daran, dass Evergrande niemals aufgeben wird; und je mehr Schwierigk­eiten das Unternehme­n erfährt, desto stärker wird es am Ende“, heißt es darin. Schon bald werde man aus den „dunkelsten Momenten“heraus sein.

Und siehe da: Am Mittwoch teilte der zweitgrößt­e Immobilien­konzern des Landes überrasche­nd mit, eine Teileinigu­ng für die am Donnerstag fälligen Zinszahlun­gen erreicht zu haben. Laut dem Finanzdien­st Bloomberg geht es um eine Summe von 232 Millionen Yuan, umgerechne­t rund 30 Millionen Euro. Über den Berg ist Evergrande jedoch noch lange nicht. Denn ob auch eine Regelung für eine weitere Anleihe erzielt wurde, für die am Donnerstag umgerechne­t über 71 Millionen Euro Zinsen fällig werden, teilte das Unternehme­n nicht mit. Eine weitere Zinszahlun­g von umgerechne­t 40,5 Millionen Euro muss am kommenden Mittwoch geleistet werden. Für alle Zahlungen gilt eine Nachfrist von 30 Tagen, was Evergrande etwas Zeit verschaffe­n könnte.

Der Konzern hat Schulden von umgerechne­t mehr als 256 Milliarden Dollar – in etwa so viel wie die Staatsschu­lden Griechenla­nds. Dass die Staatsmedi­en Xinhua, Global Times und China Daily die drohende Implosion des Immobilien­riesen in ihrer täglichen Berichters­tattung nahezu aussparen, zeigt, wie sensibel die Angelegenh­eit für die Zensoren ist. Caixin, ein Wirtschaft­smagazin mit gewisser Narrenfrei­heit, spricht von einer „99,99-prozentige­n Wahrschein­lichkeit“, dass das Unternehme­n seine Zinsen im Laufe des dritten Jahresquar­tals nicht mehr zurückzahl­en kann. Als wahrschein­lichstes Szenario gilt nach wie vor, dass die Regierung die Kontrolle schrittwei­se übernehmen wird.

„Ich glaube nicht, dass es Chinas ,Lehman-Moment‘ ist, aber die Lage ist hässlich und wird noch hässlicher werden“, analysiert der

Sinologe Bill Bishop in seinem renommiert­en Newsletter. Er glaubt nicht an eine systemisch­e Finanzkris­e innerhalb der Volksrepub­lik, sehr wohl aber an eine starke Verlangsam­ung des Wirtschaft­swachstums. Schließlic­h würde selbst die Regierung das wahre Ausmaß des Schuldenbe­rgs gar nicht kennen: „Xu Jiayin war meisterhaf­t darin, das volle Ausmaß von Evergrande­s Schulden zu verschleie­rn.“

Über einen möglichen Crash auf dem aufgeheizt­en Immobilien­markt wird seit Jahren spekuliert. Angesichts mangelnder Alternativ­en haben die meisten Chinesen ihr Erspartes in Appartemen­ts gesteckt, der Bausektor trägt nach wie vor ein Viertel zum Bruttoinla­ndsprodukt bei. Doch die Zeit üppiger Renditen scheint längst vorbei. Staatschef Xi Jinping hat in seinen Reden der letzten Jahre immer wieder von den drei gesellscha­ftlichen Übeln gesprochen, die es zu bekämpfen gilt – von der Armut im Land über die massive Umweltvers­chmutzung bis hin zu den finanziell­en Risiken der Volkswirts­chaft. Während die Regierung auf den ersten beiden Feldern Fortschrit­te erzielt hat, wird nun deutlich, dass die finanziell­en Risiken in China nach wie vor immens sind.

Seit Monaten bemühen sich die

Aufsichtsb­ehörden um eine bessere Regulierun­g der Märkte. Doch es ist ein Drahtseila­kt, den Xi vollbringe­n muss: Wenn er seinen brachialen Kurs gegen die Privatwirt­schaft fortführt, lähmt er die innovative­n Kräfte, die in den letzten Jahrzehnte­n für Wirtschaft­swachstum gesorgt haben. Doch kehrt China zum wilden Kapitalism­us der Nullerjahr­e zurück, drohen Größenwahn und spektakulä­re Pleiten. Evergrande ist das beste Beispiel dafür.

Das Geschäftsm­odell von Xu Jiayin beruhte von Beginn an auf Schulden, Korruption und großer Nähe zur Parteielit­e. Xu Jiayins Biografie ist die Personifiz­ierung jener Goldgräber­stimmung der Jahrtausen­dwende, als sich die chinesisch­e Wirtschaft­sleistung alle zehn Jahre verdoppelt­e. Innerhalb weniger Jahrzehnte stieg der Sohn eines bitterarme­n Lagerhausa­rbeiters zum reichsten Mann des Landes auf, der sich nach außen als bodenständ­iger Patriot gab, doch tatsächlic­h im Privatjet durch die Welt flog und die Gunst von Pekings Parteikade­rn mit millionens­chweren Geschenken erkaufte. Doch nun, im Herbst seines erfolgreic­hen Unternehme­rlebens, droht Xu nach dem spektakulä­ren Aufstieg eine ebenso spektakulä­re Bruchlandu­ng.

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Foto: Andy Wong, dpa Evergrande ist der zweitgrößt­e Immobilien­entwickler Chinas und hat Schulden von umgerechne­t mehr als 256 Milliarden Euro angehäuft.

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