Vom Lebemann zum psychischen Wrack
Regisseur Philipp Stölzl bringt Stefan Zweigs Klassiker ins Kino. Großartig verkörpert Hauptdarsteller Oliver Masucci den Verfall in der Isolationshaft. Doch die Schlusswendung enttäuscht
Drei Umschläge brachte der Schriftsteller Stefan Zweig am 21. Februar 1942 im brasilianischen Persepolis zur Post. Darin befanden sich die Typoskripte zur „Schachnovelle“, die an zwei Verleger in den USA und einen Übersetzer in Argentinien versendet wurden. Am Tag darauf nahm sich der Autor, der 1934 vor dem aufkommenden Nationalsozialismus aus Salzburg über London und New York ins brasilianische Exil geflüchtet war, mit seiner zweiten Frau Lotte das Leben. Die knapp hundert Seiten lange „Schachnovelle“ist das letzte vollendete Werk Zweigs.
Die in Exilverlagen in Buenos Aires und Stockholm erschienenen deutschsprachigen Erstausgaben zählten nur wenige hundert Exemplare. Aber nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges avancierte die „Schachnovelle“übersetzt in mehr als sechzig Sprachen zu Zweigs erfolgreichster Veröffentlichung. In Deutschland gehört sie bis heute zur Schullektüre und belegt in germanistischen Instituten ganze Regale an Sekundärliteratur.
In dem schmalen Band zeigt sich noch ein letztes Mal die Kunstfertigkeit des österreichischen Erzählers, der hier eine meisterhafte Balance zwischen lustvollen, sprachlichen Ausschweifungen und pointierter Verdichtung findet. Gleichzeitig bietet die Geschichte des Wiener Notars, der 1938 in die Isolationshaft der Gestapo gerät und einzig in einem heimlich entwendeten Schachbuch geistigen Trost findet, in konzentrierter Form eine scharfe Analyse der zerstörerischen Folgen des NS-Terrorregimes auf die menschliche Seele.
Trotz ihrer literarischen Bedeutung wurde die „Schachnovelle“bisher nur einmal 1960 mit Curd Jürgens, Hansjörg Felmy und Mario Adorf verfilmt. Siebzig Jahre später versucht nun Philipp Stölzl das Werk neu für das Kino zu erschließen. Zunächst als Regisseur von Musikvideos für Rammstein und Madonna und mit seinem Bergdrama „Nordwand“(2008) machte Stölzl auf sich aufmerksam. Es folgten „Goethe!“(2010) über die wilden Jahre des deutschen Dichters, die US-Produktion „Die Logan Verschwörung“(2011), die Bestseller-Verfilmung „Der Medicus“ und zuletzt das Udo-Jürgens-Musical „Ich war noch niemals in New York“(2019). So unterschiedlich diese Filme wirken, ist ihnen eines gemeinsam: eine große Neugier auf das Kino und seine Ausdrucksmöglichkeiten.
Und so erscheint Stölzls „Schachnovelle“in der ersten Viertelstunde zunächst erstaunlich konventionell. Zwar behält er Zweigs Rahmenhandlung bei, die auf einer Schiffspassage von Rotterdam Richtung Südamerika angesiedelt ist, springt aber schon bald zurück, um die Schmerzensgeschichte Dr. Josef Bartoks (Oliver Masucci) zu erzählen. Der Wiener Notar genießt das mondäne Leben und glaubt nicht an den „Anschluss“Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland.
Noch am Abend vor dem Einmarsch deutscher Truppen besucht er mit seiner Frau Anna (Birgit Minichmayr) einen Ball, wo ihm ein Freund nahelegt, noch in dieser Nacht das Land zu verlassen, da er auf der Verhaftungsliste der Nazis stehe. Während er versucht, in der Kanzlei brisante Unterlagen zu vernichten, wird der Notar von der Gestapo verhaftet, die im schmucken Hotel Metropol ihr Hauptquartier eingerichtet hat. Als diskreter Vermögensverwalter des österreichischen Hochadels soll der Gefangene dem Leiter Franz-Josef Böhm (Albrecht Schuch) Zugang zu den geheimen Konten verschaffen. Als Bartok sich weigert die Codes preiszugeben, wird er zur „Sonderbehandlung“ in ein abgelegenes Hotelzimmer gesperrt.
Wochen vergehen, bis zum ersten Verhör, ohne dass er mit einem Menschen sprechen, ein Buch oder eine Zeitung lesen kann. Mit der Foltermethode der sozialen Deprivation soll der Häftling gebrochen werden. Tatsächlich droht die totale Isolation Bartok in den Wahnsinn zu treiben, bis er in einem unbemerkten Augenblick während eines Verhörs ein Buch entwenden kann. Die Hoffnung auf literarische Nahrung wird jedoch jäh enttäuscht, als sich der gestohlene Band als Schachlehr(2013) buch erweist. Dennoch saugt Bartok alle Informationen des Buches in sich auf, formt aus Brotkrümeln heimlich Figuren und stellt auf dem karierten Fliesenboden die Partien der Schachgroßmeister nach.
Aber als er beginnt gegen sich selbst zu spielen, gerät er immer tiefer hinein in eine Psychose. Als seelisches Wrack wird er aus der Haft entlassen, verlässt das Land, trifft im Salon des Transatlantikdampfers auf den ungarischen Schachweltmeister Mirko Czentovic und droht in der Partie gegen den Champion erneut den Verstand zu verlieren.
War es in der literarischen Vorlage ein Außenstehender, der als distanzierter Erzähler fungierte, verschreibt sich Stölzls Adaption der subjektiven Sicht der Hauptfigur. Mit dem Eintritt in das GestapoHauptquartier lässt der Film alle behäbigen Kostümfilmkonventionen fallen. Die Kamera scheint selbst zum Gefangenen in der klaustrophobischen Enge des Hotelzimmers zu werden und tastet mit seismografischer Genauigkeit den psychischen Niedergang ab. Der vollkommene Verlust von Raum und Zeit lässt das Hotelzimmer, die Gänge und auch den Verhörraum als kafkaeskes Gefängnis erscheinen. Hauptdarsteller Oliver Masucci zieht hier alle Register, wenn es darum geht, den Verfall seiner Figur vom selbstbewussten Lebemann zum psychischen Wrack nachzuzeichnen.
Voll und ganz widmet sich diese „Schachnovelle“dem seelischen Zerrüttungsprozess durch die Isolationsfolter. Was im Roman als nachträglicher Betroffenenbericht durch die Augen eines Außenstehenden erzählt wird, ist auf der Leinwand direktes Erleben. Das wirkt im Vergleich zur Eleganz der literarischen Vorlage nur auf den ersten Blick übersteuert, entwickelt aber im cineastischen Raum seine eigenen, sehenswerten erzählerischen Qualitäten.Weniger schlüssig sind allerdings die Hinzufügungen, angefangen von der angedichteten Ehefrau, die nur die Funktion eines Sehnsuchtsbildes hat, bis hin zu einer Schlusswendung, die etwas zu stolz aus dem Hut gezaubert wird und das offene Ende von Zweigs Vorlage in die entbehrliche Eindeutigkeit katapultiert.
Zerrüttet wird er aus der Haft entlassen