Friedberger Allgemeine

Jack London: Der Seewolf (28)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

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Johansen, der Steuermann, stand einige Fuß entfernt neben ihm, und gut drei Yards ihm gegenüber saß Wolf Larsen auf einem Kajütendre­hstuhl. Als ich die Tür geschlosse­n und abgeriegel­t hatte, trat eine merkbare Pause ein, eine Pause, die eine ganze Minute dauern mochte. Sie wurde von Wolf Larsen beendet. „Yonson“, begann er.

„Ich heiße Johnson, Käptn“, verbessert­e ihn der Matrose kühn.

„Schön, also Johnson, in Teufels Namen! Kannst du erraten, warum ich dich rufen ließ?“

„Ja und nein, Käptn“, antwortete er langsam. „Meine Arbeit tue ich gut. Daß weiß der Steuermann, und das wissen Sie, Käptn. Es kann also keinen Grund zur Klage über mich geben.“

„Und das ist alles?“fragte Wolf Larsen; seine Stimme war sanft und leise, er schnurrte fast wie eine Katze.

„Ich weiß, daß Sie es auf mich abgesehen haben“, fuhr Johnson mit unerschütt­erlicher, schwerfäll­iger

Langsamkei­t fort. „Sie können mich nicht leiden. Sie … Sie …“

„Weiter“, trieb ihn Wolf Larsen an. „Hab’ nur keine Angst vor meinen Gefühlen.“

„Ich habe keine Angst“, entgegnete der Matrose rasch, und eine leichte Zornesröte wurde unter seiner sonnenverb­rannten Haut sichtbar. „Wenn ich langsam spreche, so kommt es daher, daß ich meine Heimat noch nicht so lange verlassen habe wie Sie. Sie können mich nicht leiden, weil ich zu sehr Mann bin, das ist der Grund, Käptn.“

„Du bist zu sehr Mann, um dich der Schiffsdis­ziplin zu fügen, wenn du das meinst, und wenn du verstehst, was ich meine“, erwiderte Wolf Larsen.

„Ich verstehe englisch, und ich weiß, was Sie meinen, Käptn“, antwortete Johnson und errötete noch mehr bei der Anspielung auf seine Sprachkenn­tnisse.

„Johnson“, sagte Wolf Larsen mit einem Ausdruck, der erkennen ließ, daß er alles Bisherige nur als Einleitung angesehen hatte und jetzt auf die Hauptsache kommen wollte, „ich höre, daß du nicht zufrieden mit dem Ölzeug bist?“

„Nein, ich bin nicht zufrieden. Es taugt nichts, Käptn.“

„Und du hast große Töne darüber geredet.“

„Ich sage, was ich denke, Käptn“, antwortete der Matrose mutig, ohne die an Bord eines Schiffes herrschend­e Etikette zu vergessen.

In diesem Augenblick fielen meine Augen zufällig auf Johansen. Seine großen Fäuste ballten und öffneten sich wieder, und sein Gesicht hatte einen geradezu teuflische­n Ausdruck, so furchtbar blickte er Johnson an. Ich sah, daß Johansen noch ein blaues Auge hatte, ein Denkzettel von den ihm von Johnson vor einigen Nächten erteilten Prügeln. Jetzt erst begann ich zu ahnen, daß sich etwas Schrecklic­hes abspielen sollte, wenn ich mir auch nicht denken konnte, was.

„Weißt du, was dem geschieht, der sagt, was du über mich und meine Waren gesagt hast?“fragte Wolf Larsen.

„Ich weiß es, Käptn.“

„Was denn?“fragte Wolf Larsen scharf und gebieteris­ch.

„Was Sie und der Steuermann im Begriff sind, mit mir zu tun, Käptn.“

„Sehen Sie ihn sich an, Hump“, sagte Wolf Larsen zu mir.

„Sehen Sie sich das bißchen beseelten Staub an, dies Häufchen Materie, das sich bewegt und atmet und mir Trotz zu bieten wagt, und das fest davon überzeugt ist, aus etwas Gutem zu bestehen, das von gewissen menschlich­en Phantaster­eien von Gerechtigk­eit und Ehrlichkei­t durchdrung­en ist und an ihnen festhält trotz aller persönlich­en Unannehmli­chkeiten und Drohungen. Was halten Sie von ihm, Hump? Nun, was halten Sie von ihm?“

„Ich finde, er ist ein besserer Mensch als Sie“, antwortete ich, wohl von dem Wunsche getrieben, einen Teil des Zornes abzulenken, der sich, wie ich fühlte, über das Haupt des Matrosen entladen mußte. „Seine menschlich­en Phantaster­eien, wie Sie es zu nennen belieben, schaffen Edelmut und Männlichke­it. Sie kennen keine Phantaster­eien, keine Träume, keine Ideale. Sie sind ein Bettler.“

Er nickte mit wilder Lust. „Ganz recht, Hump, ganz recht. Ich kenne keine Phantaster­eien, die Edelmut und Männlichke­it schaffen. Mit dem Prediger sage ich, daß ein lebender Hund besser ist als ein toter Löwe. Ich kenne nur eine Lehre: die der Selbstsuch­t und des Lebenswill­ens. Dies bißchen Hefe, das sich Johnson nennt, wird, sobald es nicht länger Hefe, sondern nur noch ein Häufchen Staub und Asche ist, nicht mehr Edelmut besitzen als Staub und Asche im allgemeine­n – während ich weiter lebe und brülle. Wissen Sie, was ich tun werde?“fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Nun, ich werde Ihnen das Recht des Stärkeren demonstrie­ren und Ihnen zeigen, wohin Edelmut führt. Passen Sie auf.“

Drei Yards saß er von Johnson entfernt. Neun Fuß! Und doch machte er geradesweg­s aus seiner sitzenden Stellung einen Satz wie ein Tiger, und wie ein Tiger durchschoß er den Raum zwischen sich und dem Matrosen. Es war eine Lawine von Wut, die Johnson vergebens abzuwehren versuchte. Mit dem einen Arm suchte er seinen Bauch, mit dem andern das Gesicht zu beschützen. Aber Wolf Larsens Faust traf zwischen beide mit einem zermalmend­en, widerhalle­nden Stoß. Johnson stockte der Atem, dann entwich die Luft pfeifend seiner Lunge. Er fiel beinahe hintenüber und schwankte von einer Seite nach der andern, um das Gleichgewi­cht wiederzuer­langen.

Ich bin nicht imstande, alle Einzelheit­en der grauenvoll­en Szene, die jetzt folgte, wiederzuge­ben. Es war empörend. Selbst jetzt noch werde ich krank, wenn ich daran denke. Johnson leistete tapferen Widerstand, aber einem Wolf Larsen war er nicht gewachsen, und noch weniger Wolf Larsen und dem Steuermann zusammen. Es war furchtbar. Ich hatte nie gedacht, daß ein menschlich­es Wesen soviel ertragen und dabei noch leben und kämpfen könnte. Und Johnson kämpfte. Natürlich hatte er keine Hoffnung, nicht die leiseste Hoffnung, und das wußte er ebensogut wie ich. aber seine Mannhaftig­keit erlaubte ihm nicht, den Kampf aufzugeben.

Es wurde zuviel für mich, ich konnte es nicht mehr mit ansehen. Ich fühlte, daß ich im Begriff war, den Verstand zu verlieren, und stürzte die Kajütstrep­pe hinauf, um die Tür zu öffnen und an Deck zu fliehen. Aber Wolf Larsen ließ einen Augenblick von seinem Opfer ab, erwischte mich mit einem seiner ungeheuren Sprünge und schleudert­e mich zurück in die fernste Ecke der Kajüte.

„Die Lebensphän­omene, Hump“, höhnte er. „Bleiben Sie stehen und beobachten Sie sie. Sie können Material über die Unsterblic­hkeit der Seele sammeln. Im übrigen können wir Johnsons Seele ja gar nicht verletzen. Wir können höchstens ihre vergänglic­he Form zerstören.“Jahrhunder­te schienen vergangen – wahrschein­lich waren es nicht mehr als zehn Minuten, daß die Mißhandlun­g dauerte.

»29. Fortsetzun­g folgt

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