Friedberger Allgemeine

Wie Firmen die Textilbran­che zurückerob­ern

Dass in Augsburg einmal wieder Textilfirm­en aufmachen, hätte lange niemand geglaubt. Erfinderis­che Unternehme­n und Forschungs­einrichtun­gen wagen den Neustart

- VON MARIA‰MERCEDES HERING Im Internet www.textiles‰augsburg.de

Es ist ein Geräusch, wie man es lange Zeit in Augsburg kaum mehr gehört hat. Ein beständige­s Rattern, dumpfe, kurze Schläge, schnell hintereina­nder. Manchmal überlagern sich die Salven, kurze Pause, dann setzen weitere Wellen dieses Staccato ein. So klingt es, wenn mehrere Dutzend Menschen in einer großen, hohen Halle an Nähmaschin­en arbeiten, Stoffteile für Einkaufsbe­utel zusammenfü­gen, Taschengri­ffe befestigen, all das mit konzentrie­rten, routiniert­en Handgriffe­n. So wie in der Halle von Manomama neben der City-Galerie. Hier, mitten in Augsburg, gibt es wieder ein Textilunte­rnehmen. Gerechnet hätte damit vor zehn Jahren niemand.

Was die Textilindu­strie in Augsburg in den 1980er und 1990er Jahren erlebte, nennen die einen Niedergang, die anderen eine Katastroph­e. In Augsburg, seit Jahrhunder­ten ein industriel­les Zentrum und seit über 100 Jahren auch eine Hochburg der Textilindu­strie, schlossen nach und nach die Firmen. Tausende Menschen verloren ihre Arbeit. Nur wenige Unternehme­n überlebten, und noch weniger blieben bei Textilien. Augsburgs Ära als Textilstad­t war vorbei. Und der Schock, dass man das nicht hatte verhindern können, saß bei vielen Menschen tief. Wer würde ausgerechn­et hier wieder in diese Branche einsteigen?

Sina Trinkwalde­r hat mit Manomama gewagt, was viele in Augsburg lange für unmöglich gehalten haben: Mit ihrem Textilunte­rnehmen arbeitet sie seit elf Jahren genau dort, in der traditions­reichen und krisengebe­utelten Textilstad­t. Für Trinkwalde­r war von Anfang an klar, dass sie in Augsburg ihr Unternehme­n aufbauen wollte – in ihrer Heimat, der „Heimat des Textils“, wie sie diese nennt.

Sina Trinkwalde­r ist eine Frau, die weit über Augsburg hinaus bekannt ist. Immer wieder sitzt die Unternehme­rin mit der großen dunklen Brille in Talkshows, gibt Interviews, schreibt Bücher. Ihre Arbeit, das wird daraus klar, ist nicht einfach ein Job. Wenn Sina Trinkwalde­r darüber spricht, klingt es nach Berufung. Das liegt auch an ihrer Art zu erzählen: laut, eindringli­ch, direkt. Eine Macherin, die sich gegen zu viele Widerständ­e durchgeset­zt hat, um noch zimperlich zu sein. Sagt ihr jemand, dass etwas nicht geht, scheint sie das noch mehr anzusporne­n.

Dass es noch möglich ist, in Augsburg zu produziere­n, hätten viele anfangs nicht geglaubt, erinnert sich Trinkwalde­r. Zu teuer, nicht rentabel, nicht möglich – gegen diese Argumentat­ion stellte sie sich von Anfang an. Man könne hier nicht produziere­n, das höre sie, so lange es Manomama gebe.

Bevor Trinkwalde­r Manomama gründete, hatte die heute 43-Jährige jahrelang mit ihrem Mann eine Werbeagent­ur geführt. Eine Begegnung mit einem Obdachlose­n brachte sie jedoch zum Umdenken, wie sie erzählt. Trinkwalde­r entschied sich, ein soziales Unternehme­n zu gründen – und zwar in der Textilbran­che. Ihr sei es wichtig gewesen, in die Produktion zu gehen, um für Menschen mit unterschie­dlichen Fähigkeite­n einen Platz zu finden, sagt sie. Über elf Jahre sind die ersten Übungen an der Nähmaschin­e her. Aus einem kleinen Betrieb ist ein Unternehme­n mit rund 120 Menschen geworden. Produziert wird an einem geschichts­trächtigen Ort: direkt neben der City-Galerie, auf dem Gelände der Neuen Augsburger Kattunfabr­ik, die einst ein traditions­reiches Textilunte­rnehmen war.

„Ökosozial“beschreibt am ehesten die Werte, nach denen Sina Trinkwalde­r arbeiten möchte. Ihr Unternehme­n beschäftig­t Menschen, die auf dem regulären Arbeitsmar­kt kaum Jobs finden. Die will Trinkwalde­r alle fair bezahlen. „Fair“, das heißt für sie mit einem Lohn, der über dem Mindestloh­n

liegt, und in unbefriste­ten Verträgen. Ökologisch will das Unternehme­n insofern sein, als die Textilien keine schädliche­n Chemikalie­n enthalten sollen. Hergestell­t werden die Produkte laut Trinkwalde­r alle in Deutschlan­d.

Nicht nur produziere­n, damit die Firma profitiert – sondern auch die Gesellscha­ft. Dieser Gedanke treibt auch Fabian Frei und Wolfgang Schimpfle an. Die beiden Augsburger lernten sich im Studium der Umwelt- und Verfahrens­technik kennen und träumten bald davon, mit einem eigenen Unternehme­n etwas zu bewegen. Über die ersten Ideen – damals noch ohne den späteren Mitbegründ­er Schimpfle – erzählt Fabian Frei, dass die Nachhaltig­keit schon immer die Basis gewesen sei.

Im Praxisseme­ster hatten die beiden dann die Idee, ein Label zu gründen. Wie Wolfgang Schimpfle erzählt, sei es zunächst darum gegangen, dass sie „einen möglichst großen Output an sinnvollen Produkten schaffen wollten“. Die zentrale Frage dahinter: Womit erreicht man sehr viele Leute? „Da ist Bekleidung ein Riesenthem­a, weil jeder Bekleidung trägt. Jeder verbindet damit etwas, sie kann Emotionen transporti­eren“, sagt Schimpfle und fügt hinzu: „Und sie ist einfach ein schönes Produkt an sich.“

Dass die Idee zu Degree beim Surfen und im Studium entstanden ist, sieht man den beiden Gründern an. Schimpfle im wild gemusterte­n Polohemd und Frei mit Muschelket­te und Dutt sehen aus, als ob sie direkt von der Arbeit zum Strand gehen könnten. Im Laden am Mittleren Lech in der Augsburger Altstadt hängt das passende Surfbrett schon an der Wand. Wenn die beiden Gründer über ihre Ideen und Projekte sprechen, schwingt eine große Leidenscha­ft für ihr Tun mit. Ihre Werte tragen sie beständig nach außen: Auf Instagram sind sie mit ihrem Label sehr aktiv, zeigen Kollektion­en, Eindrücke von Veranstalt­ungen, sich selbst, immer entspannt und gut gelaunt. Im Gespräch fallen selten Wörter wie „Käufer“oder „Kundin“– lieber nennen Frei und Schimpfle diese Menschen „Degree Society“. Das klingt weniger nach Shoppen und mehr nach einer gemeinsame­n inneren Überzeugun­g.

Mit der Behauptung, die Textilzeit in Augsburg sei vorbei, wollten sich auch Fabian Frei und Wolfgang Schimpfle nicht abfinden. Bevor sie 2015 mit der Marke anfingen, fiel es den beiden allerdings gar nicht so leicht, in Augsburg oder Deutschlan­d Firmen für die Produktion zu finden. Das habe daran gelegen, dass zu großen Teilen die Infrastruk­tur für eine Textilprod­uktion gar nicht mehr da gewesen sei, erinnert sich Wolfgang Schimpfle. „Da ging es gar nicht mal darum, dass das keiner machen will, sondern darum, dass viele Kompetenze­n im Bereich Bekleidung­fertigung bereits abgewander­t waren.“Die beiden Gründer wussten allerdings, dass es in Portugal eine solche Industrie gab. Dort besuchten sie Firmen, schauten sich die Produktion­sbedingung­en an, bis eine Produktion­skette stand, wie sie sie sich vorstellte­n. Heute wird in Deutschlan­d und Portugal produziert.

Nachhaltig, fair, ökologisch: Dass Mode zunehmend nicht mehr nur dem Ästhetik-, sondern auch dem Wertempfin­den der Menschen gerecht werden soll, ist überall zu beobachten. Nicht nur kleine Marken schreiben sich diese Werte auf die Websites, auch globale Riesen werben bisweilen mit Biobaumwol­le und Nachhaltig­keit. Die Marken reagieren auf eine veränderte Nachfrage.

Auch Manomama-Chefin Sina Trinkwalde­r erlebt, wie das Interesse an nachhaltig­en und fairen Produkten steigt. „Das Schöne in der Zeit mittlerwei­le ist, dass das Bewusstsei­n bei Kunden durchaus geschärft wird und auch wächst für eine nachhaltig­e Produktion, für transparen­te Lieferkett­en, für weniger Menschenre­chtsverlet­zungen – also einfach für gute Wertschöpf­ung.“Mit Sorge sieht sie, wie aber auch neue Marken auf den Markt kommen, bei denen sie Transparen­z vermisst. Ob da wirklich alles fair, bio und nachhaltig ist? „Es wird auch mehr Schindlude­r getrieben. Das ist aber immer so, wenn eine Nachfrage steigt, gibt es auch viele Trittbrett­fahrer.“

Nicht nur Trinkwalde­r, Schimpfle und Frei sind Gesichter einer neuen Textilbewe­gung in Augsburg. In der Stadt wird auch an der Zukunft von Textilien geforscht. Etwa in einer großen Halle im Sigma Technologi­epark. Im Südosten der Stadt stehen riesige Maschinen, die aus Säcken voller Fasern gleichmäßi­ge Vliesbahne­n herstellen, feste Faserschic­hten, die sich wie ein Teppich aufrollen lassen.

Wer „Textilien“hört, denkt oft zuerst an Offensicht­liches aus dem Alltag: Kleidung, Bettwäsche, Handtücher. Dabei können auch Ski, Fahrradrah­men oder Prothesen im weiteren Sinne Textilien sein – Hightech-Textilien, die langsam den Alltag erobern. Gemeinsam haben all diese Dinge die Faserstruk­tur, aus der sie aufgebaut sind. Das können Baumwollfa­sern sein, aber auch Carbonfase­rn, also Kohlenstof­f.

Aus solchen Fasern können Dinge hergestell­t werden, die leichter sind als Aluminium und dabei genauso fest. Das ist die Hightech-Seite von Textilien – eine Stärke, die noch lange nicht vollständi­g erforscht ist.

Damit beschäftig­t sich auch das Institut für Textiltech­nik Augsburg (ITA), ein Teil der ITA Gruppe um das ITA der Rheinisch-Westfälisc­hen Technische­n Hochschule Aachen. Ein Schwerpunk­t für die Forschung sind Nachhaltig­keit und Recycling von Textilien. Der Vorteil: Faserstoff­e wie Carbon lassen sich mit wenig Energie recyceln. Außerdem beschäftig­en sich die Forschende­n mit Künstliche­r Intelligen­z. Die soll in der Arbeit mit Fasern helfen, die Qualität und das ökologisch­e Potenzial zu verbessern und die Produktion wirtschaft­licher zu machen.

Dass all dies in Augsburg passiert, dass eben dort an der textilen Gegenwart und Zukunft gearbeitet wird, ist kein Zufall, wie ITA-Leiter Stefan Schlichter erklärt. „Der Grund, warum wir vor sechs Jahren hier in Augsburg gegründet wurden, ist die Spezialisi­erung der Region auf die neuen textilen Hochleistu­ngs-Werkstoffe für den Leichtbau der Mobilitäts­branchen.“Die sei von Produktion, Maschinenb­au und Textiltrad­ition geprägt, zudem sei das Institut hier in der Nähe der Kunden. Die Mischung aus Altem und Neuem wird zum Standortvo­rteil. Schlichter schätzt außerdem die Logistik in Augsburg: „Augsburg liegt sehr günstig, es gibt viele begleitend­e Industrien des Produktion­sgewerbes, die wir als Partner nutzen können, sodass wir an sich ideale Randbeding­ungen haben.“

Aufbruch in die textile Zukunft: Forschende, die das Potenzial von Fasern ergründen, und kreative Köpfe, die bei der Produktion von Kleidung neue Wege gehen wollen – seit Augsburg ein Zentrum der Textilindu­strie war, hat sich viel verändert. Die meisten Traditions­unternehme­n sind aus der Stadt und der Region verschwund­en, die wenigsten konnten sich in der Textilbran­che behaupten. Firmen wie Freudenber­g, das Unternehme­n hinter der Vileda-Marke für Reinigungs­geräte in Augsburg, oder Juzo, der Aichacher Hersteller von medizinisc­hen Hilfsmitte­ln wie Kompressio­nsstrümpfe­n, konnten sich zwar halten. Andere große Namen wie AKS, NAK und SWA sind aber verschwund­en und sagen vielen Menschen heute nichts mehr.

Das Wichtigste ist jedoch immer noch da: der große Wissenssch­atz von Generation­en. Viele tausend Menschen haben in der Branche gearbeitet, gewebt, gestrickt, gefärbt, genäht. Auch wenn das lange her ist, wissen sie noch, worauf es ankommt. Diesen großen Wissenssch­atz können neue Firmen nutzen. Sina Trinkwalde­r kaufte beim Augsburger Urgestein Raphael Wilhelm eine Nähmaschin­e und ließ sich von ihm das Nähen beibringen. Die fair hergestell­ten Haargummis von Degree Clothing entstehen im Textilmuse­um mithilfe der dortigen Expertinne­n und Experten auf den alten Strickmasc­hinen. Und das Institut für Textiltech­nik profitiert von der textilen Tradition und dem Netzwerk aus Unternehme­n, die es in Augsburg noch und wieder gibt.

Neuanfänge sind also möglich – gerade in Augsburg. Mit Zähigkeit, Mut und Interesse, vor allem aber mit dem Gespür für das, was wichtig wird, lässt sich hier eine Menge ausrichten. Und mit jedem neuen Unternehme­n und jeder neuen Einrichtun­g aus dem Textilbere­ich kann Augsburg als Standort wieder attraktive­r werden. Gibt es also eine textile Zukunft für Augsburg?

Sina Trinkwalde­r ist sich sicher: „Wenn ich mir meine Ladys und Gentlemen hier unten in den Hallen anschaue, dann hat Augsburg nicht nur eine textile Zukunft, sondern eine prosperier­ende textile Zukunft.“

Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Der Stoff, aus dem die Stadt gemacht ist“, das in Kooperatio­n mit der Deutschen Journalist­enschule in München entstanden ist.

 ?? Foto: Degree (Archivbild) ?? Das Augsburger Modelabel Degree Clothing war 2018 mit einem Stand auf der Berlin Fashion Week vertreten.
Foto: Degree (Archivbild) Das Augsburger Modelabel Degree Clothing war 2018 mit einem Stand auf der Berlin Fashion Week vertreten.
 ?? Foto: Silvio Wyszengrad (Archivbild) ?? Sina Trinkwalde­r stellt mit ihrer Augsburger Textilfirm­a Manomama vom Garn bis zur Naht alles in Deutschlan­d her.
Foto: Silvio Wyszengrad (Archivbild) Sina Trinkwalde­r stellt mit ihrer Augsburger Textilfirm­a Manomama vom Garn bis zur Naht alles in Deutschlan­d her.
 ?? Foto: Maria‰Mercedes Hering ?? Forschung beim Institut für Textiltech­nik in Augsburg: vorne Vliesbahne­n, hinten die Maschinen.
Foto: Maria‰Mercedes Hering Forschung beim Institut für Textiltech­nik in Augsburg: vorne Vliesbahne­n, hinten die Maschinen.

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