Priester mit fragwürdigen Methoden
Pater Antony, wie ihn seine Anhänger nennen, bot viele Jahre Exerzitien und Einkehrtage zur „inneren Heilung“an. Das katholische Bistum Augsburg verbot ihm das. Einblicke in eine teils verstörende Glaubenswelt, die den meisten verborgen bleibt
Illerberg/Augsburg Das Dorf Illerberg im schwäbischen Landkreis Neu-Ulm heißt nicht von ungefähr so. Es zieht sich zwar nicht um einen Berg, aber doch um einen Hügel. Und auf dem thront, nach Angaben der katholischen Pfarreiengemeinschaft Vöhringen, 537 Meter über dem Meer die St.-Martins-Kirche. Ein von Weitem sichtbarer Barockbau samt Pfarrhaus. Dort lebt und wirkt seit Jahrzehnten schon Pfarrer Antony P. Der 69-Jährige ist bekannt wie seine Kirche – zumindest einem bestimmten Kreis von Gläubigen und Hilfesuchenden. Seine Praktiken allerdings sind höchst fragwürdig.
Das Beispiel des Illerberger Pfarrers ermöglicht einen Einblick in eine Welt, die den meisten verborgen bleibt. Es ist eine Welt, in der Heilung versprochen, aber großes Unheil angerichtet werden kann.
An einem Donnerstag im September reisen Menschen dutzende Kilometer, manche mehr als eine Stunde mit dem Auto an, um bei ihm die Beichte abzulegen. Angekommen, nehmen sie nochmals lange Wartezeiten auf sich, bis sie ein Mitglied seines „Teams“zu ihm vorlässt. Der kleine Parkplatz und der Hof des Pfarrheims füllen sich an jenem Nachmittag in kurzer Zeit. Auf der Homepage der Pfarreiengemeinschaft war der Termin als „Seelsorgegespräch und Beichtgelegenheit im Pfarrheim in Illerberg“angekündigt worden.
Die Menschen kommen zu dem „Priester zur Mithilfe“und „Begleiter der charismatischen Erneuerung in Illerberg“– wie er offiziell bezeichnet wird –, um ihre Sünden zu beichten und um über das zu sprechen, was ihnen auf der Seele brennt. Diese Seelsorgegespräche führt P. nicht selbst. Er hat ein Team aus Laien um sich geschart, das ihn unterstützt. Nach Recherchen unserer Redaktion eine Gruppe engagierter Katholiken, von denen etwa zehn seelsorglich tätig waren. Und es nach wie vor sind.
Alle aus diesem Team seien viele Jahre dabei und hätten viel Erfahrung, versichert P. Er weist darauf hin, dass manchmal mehrere Sitzungen benötigt würden. Am Ende spreche er ein Gebet.
Verstößt er damit gegen ein Dekret des Augsburger Bischofs aus dem Juni? Auf der Internetseite der Pfarreiengemeinschaft Vöhringen findet sich nämlich dieser Satz: „Auf Weisung des Hwst. Herrn Bischofs Dr. Bertram Meier dürfen die Exerzitien und die Einkehrtage in Illerberg nicht mehr stattfinden.“Seelsorgegespräche im Pfarrheim, die auch die Exerzitien begleiteten, werden weiterhin angeboten. Sind sie ebenfalls problematisch?
Eine Person, die beides besuchte, beschreibt Teilnehmerinnen und Teilnehmer als teilweise verzweifelt; manche hätten einen labilen Eindruck gemacht. Als besonders befremdlich habe die Person, die anonym bleiben will, empfunden, dass sie von einem von P.s Teammitgliedern einen Zettel mit dem „Gebet des Kostbaren Blutes“erhalten habe. Darin heißt es: „Jesus, lass Dein kostbares Blut in die ... Generation unserer Vorfahren und deren Familien hineinfließen und sie reinigen und heiligen.“Bis sieben Generationen zurück sollten so „alle Flüche, Verwünschungen, Festlegungen, Wurzelsünden und Bindungen“gelöst werden.
So etwas ist unter Ahnenschuld, Stammbaumheilung, Generationenoder Familienheilung bekannt. Und kann gefährlich sein. Dazu später mehr.
Zunächst zurück zu den Seelsorgegesprächen. Bei denen seien der Person von Teammitgliedern intimste Fragen, etwa zu bisherigen gestellt worden – einmal anhand eines Fragebogens an einem von mehreren im Pfarrheim aufgebauten Tischen. P. sei später von Tisch zu Tisch gelaufen. An ihrem Tisch, erzählt die Person, habe er mit Blick auf die Notizen seines Teammitglieds laut gesagt, es liege ein „sexuelles Problem“vor. Dann habe er seine Hand auf den Kopf der Person gelegt und minutenlang für sie gebetet. An einem der anderen Tische sei eine Frau in Tränen ausgebrochen. Wer gewollt habe, habe die Gespräche belauschen können.
An jenem Donnerstag im September wissen die Menschen nur Gutes über Antony P. zu berichten. Einige kennen ihn seit Jahren und beschreiben ihn als inspirierend. „Einfach ein toller Mann“, schwärmt eine Frau. Andere sagen P. „ein fast übernatürliches Einfühlungsvermögen“nach. „Pater Antony“habe Dinge über ihn gewusst, die er eigentlich nicht habe wissen können, erzählt ein Mann. Dinge, über die er mit dem Geistlichen zuvor nie gesprochen habe. Wer P. begegnet, bemerkt schnell, dass er über Ausstrahlung verfügt. Fragen beantwortet er ausholend.
Umso direkter klingt die Erklärung, die unter seinem Namen vor mehr als einem Jahr auf der Internetseite seiner Pfarreiengemeinschaft veröffentlicht wurde: Die Verantwortlichen des Bistums Augsburg hätten Mitte November 2019 mit ihm und seinem Team Kontakt aufgenommen. Das „Team Illerberg“sei gebeten worden, „das diözesane Angebot einer Fortbildung anzunehmen und während dieser Zeit einige offene Fragen zu klären“. Außerdem sei man gebeten worden, für diese Zeit keine Exerzitien in Illerberg durchzuführen. Ein Bistumssprecher weist diese Darstellung auf Anfrage als unzutreffend zurück. Was stimme: Es sei damals ein vorläufiger Stopp der Exerzitien ab Februar 2020 verfügt worden. Der Anlass: „Wiederholte Beschwerden von Exerzitienteilnehmerinnen und -teilnehmern beziehungsweise deren Angehörigen über Inhalte und Auswirkungen der Teilnahme an Exerzitien in Illerberg“. Welche Auswirkungen das genau waren, ist schwer verifizierbar.
Die Person, die anonym bleiben will, wirkt im Gespräch überaus gefestigt. Doch selbst ihr sei sehr unwohl gewesen bei den Exerzitien und Seelsorgegesprächen. „Wie erst“, fragt sie, „müssen sich sensiblere Gemüter oder Leute mit psychischer Beeinträchtigung gefühlt haben?“Das wollte auch die Bistumsleitung klären, insbesondere die Frage: Besteht ein Gefahrenpotenzial für Menschen mit psySexualpartnern, chischen Erkrankungen? Sie hatte theologische Bedenken und Bedenken hinsichtlich P. selbst.
Der ist seit 1993 in Illerberg tätig. Bereits davor hatte dort der damalige Ortspfarrer Anton Georg Simon von Mitte der 80er Jahre an die „Charismatische Erneuerung“eingeführt und damit Menschen aus einem immer größer werdenden Einzugsgebiet angesprochen. Überregional deutlich bekannter ist das Gebetshaus Augsburg, zu dessen ökumenischer Konferenz „Mehr“zuletzt um die 12000 Besucherinnen und Besucher in die Messe Augsburg kamen. Es lässt sich ebenfalls der „Charismatischen Erneuerung in der katholischen Kirche“zurechnen. Im Unterschied zu den Exerzitien in Illerberg lautete am Ende einer Prüfung durch das Bistum Augsburg Anfang 2017 allerdings das Ergebnis, dass im Gebetshaus
„nichts gelehrt und verkündet wird, was im Gegensatz zur Lehre der katholischen Kirche steht“.
Kennzeichnend für charismatische Bewegungen sind intensives Beten, moderne geistliche Musik oder die Schilderung von seelischen wie körperlichen Heilungs- und Bekehrungserfahrungen vor anderen.
Das hat auch die Person, die anonym bleiben möchte, bei Pfarrer Antony P. erlebt. So habe jemand erzählt, er sei „gestern noch in der Psychiatrie gewesen“– „dank der Kraft eurer Gebete“sei er nun hier und es gehe ihm gut. Eine Frau, die nach eigenen Worten drogenabhängig war und die P.s mehrtägige Exerzitien schon einmal besuchte, habe berichtet, die Sucht überwunden zu haben. P. habe das Negativbeispiel einer Frau angeführt, die ein Bordell betrieben habe und zur Strafe schwer erkrankt sei. Höllenfeuer sei kein Lagerfeuer, habe der Pfarrer gesagt.
Exerzitien wie die in Illerberg werden im gesamten deutschsprachigen Raum angeboten – oft von einem überschaubaren Kreis an Priestern, oft an stets denselben Orten. Häufig wird betont, es gehe um „innere Heilung“. Solche Exerzitien enthalten Vorträge, Gebet, „Lobpreis“und Gottesdienst, haben Eventcharakter – und werden teils um individuelle Seelsorgegespräche ergänzt.
Für P.s Exerzitien und Einkehrtage, die in Illerberg und Umgebung ohne Anmeldung besucht werden konnten, fielen, wenn überhaupt, geringe Gebühren und gegebenenfalls Übernachtungs- und Verpflegungskosten an. In einer Ankündigung für Exerzitien in Österreich mit ihm Anfang 2020 wird darauf hingewiesen: „Menschen mit Psychosen, Suchterkrankungen, schweren Depressionen, Suizidabsichten können nur in Absprache mit ihrem behandelnden Arzt an den Exerzitien teilnehmen.“In älteren Ankündigungen für P.s Exerzitien – beispielsweise in den Jahren 2018 oder 2011 – fehlt der Hinweis. Was nicht fehlt, ist die Bitte, die Bibel mitzubringen.
Exerzitien sollen „eine Einübung in die Glaubensgeheimnisse ermöglichen“, erklärt die Deutsche Bischofskonferenz. Laut Fachleuten und -literatur sind „Heilungs-Exerzitien“per se nicht anrüchig, und der Glaube auch an medizinische Wunder – man denke an Heilige – gehört zur katholischen Kirche.
Problematisch ist es, wenn suggeriert oder explizit vermittelt wird, dass etwa Krankheiten wie Krebs durch „Heilungsgebete“besiegt werden könnten oder der Wille Gottes seien. Das kann dazu führen, dass uneinlösbare Erwartungen geweckt oder ärztliche Behandlungen ausgeschlagen werden. Menschen können unter Druck geraten: Sie oder ihre Vorfahren seien schuld an ihrem Zustand. Ahnenschuld – als Ursache physischer oder psychischer Erkrankungen, als Abhängigkeitsverhältnis zu toten Familienmitgliedern, das man nicht selbst durchbrechen könne. Von dem man befreit werden müsse. Mithilfe Antony P.s zum Beispiel.
Bertram Meier setzte bereits kurz nach seiner Weihe zum neuen Augsburger Bischof im Juni 2020 eine Arbeitsgruppe mit Experten ein. Diese fand nach Bistumsangaben „für sämtliche“überprüften Vorwürfe „belastbare Hinweise“.
So sei das „Gebet des Kostbaren Blutes“regelmäßig bei den Exerzitien ausgeteilt worden. Antony P. bekenne sich ausdrücklich zu dessen Inhalten. „Ahnenschuld und
Er hat ein Team aus Laien um sich geschart
Der Augsburger Bischof erließ ein Verbot
Stammbaumheilung stehen aber in Widerspruch zur katholischen Glaubensüberzeugung“, sagt der Bistumssprecher. Der behauptete Kausalzusammenhang von Sünde und Krankheit stelle einen weiteren gravierenden Grund für das Verbot der Exerzitientätigkeit dar. „Nach gängiger katholischer Glaubensüberzeugung ist unser Gott ein barmherziger, kein strafender Gott“, betont er. Und die mangelnde Diskretion und Vertraulichkeit bei Seelsorgegesprächen? Sei „nicht nur aus psychologischen Gründen selbstredend nicht hinnehmbar“.
P. und seinem Team wurde im Juni 2021 für das gesamte Gebiet des Bistums Augsburg untersagt, Exerzitien und Einkehrtage anzubieten. Der Bistumssprecher erklärt, man habe bislang keine Hinweise erhalten, dass das Dekret nicht beachtet würde. Sollte man anderes feststellen, werde man „in einer Weise reagieren, die dem Dekret Geltung verschafft“. Die in Illerberg durchgeführten „sogenannten Seelsorgegespräche“unterliegen ihm zufolge ebenfalls der Auflage, dass jegliche Bezüge auf Ahnenschuld oder Stammbaumheilung auch in der sonstigen pastoralen Arbeit zu unterbleiben haben.
Am vergangenen Donnerstagnachmittag ist am Pfarrheim der St.-Martins-Kirche wieder einiges los. Von 16 bis 18 Uhr gibt es ein „Seelsorgegespräch und Beichtgelegenheit“. In der offenen Garage sitzen sich zwei Frauen gegenüber. Unter einem Baum auf Stühlen zwei Männer: Ein Teammitglied P.s macht sich Notizen, sein Gesprächspartner erzählt über die Probleme, die er mit seinem Sohn hat. Vorbeilaufende können ihn gut hören.
Am Freitag will sich Pfarrer Antony P. am Telefon zu all dem nicht äußern. „Keine Stellungnahme“, sagt er, und rechtfertigt sich dann doch. Seine Worte lassen sich so zusammenfassen: Er halte sich an das Dekret. Die je eigene Familiengeschichte sei wichtig. Und: Er versuche, Menschen zu helfen.