Friedberger Allgemeine

Alles weiter offen?

Die Union verspricht nach dem Wahldebake­l eine Erneuerung – glaubt aber, dass das am besten mit Regierungs­verantwort­ung geht. Was die Wähler, die SPD und die Liberalen zu den Plänen sagen

- VON MARGIT HUFNAGEL UND NIKLAS MOLTER

Berlin/Augsburg Am Tag nach der Bundestags­wahl ist das demonstrat­ive Selbstbewu­sstsein der Union, trotz des Rückstands zur SPD die nächste Bundesregi­erung anzuführen, einer erkennbare­n Ernüchteru­ng gewichen. Demut ist ein Wort, das am gestrigen Montag immer wieder zu hören war – aber auch der Begriff der Erneuerung macht die Runde. CDU und CSU wollen aus dem für sie niederschm­etternden Wählervotu­m ihre Lehren für die Ausrichtun­g der Partei ziehen, versichert­en die Parteichef­s Armin Laschet und Markus Söder nach den Sitzungen der jeweiligen Präsidien. Die Union werde Koalitions­gespräche anstreben, sehe aber, dass der klare Regierungs­auftrag nicht bei ihr liege. Der Unmut in den Parteigrem­ien ist groß. Es gebe keinen Grund, irgendetwa­s schönzured­en, sagte CDU-Generalsek­retär Paul Ziemiak. „Die Verluste sind bitter und sie tun weh.“Die Analyse solle „brutal offen“sein.

Natürlich wisse er, dass er auch einen persönlich­en Anteil daran habe, sagte Kanzlerkan­didat Laschet. Das Ergebnis werde intensiv aufgearbei­tet werden. Egal, ob die Union in Regierungs­verantwort­ung komme, es müsse eine Erneuerung auf allen Ebenen stattfinde­n. „Wir dürfen es nicht schönreden“, sagte Söder. Dazu gehört auch ein Blick auf die eigenen Wahlergebn­isse: Die CSU hat eine historisch­e Schlappe eingefahre­n. Mit 31,7 Prozent stürzt sie auf das schlechtes­te Ergebnis seit 1949 ab und verliert im Vergleich zur letzten Bundestags­wahl 2017 sieben Prozentpun­kte. Dennoch werden sich die Blicke zunächst auf Laschet richten. Die nächsten Tage werden zeigen, wie lange er sich noch in seinem Amt halten kann. Aus der zweiten Reihe werden bereits Rücktritts­forderunge­n laut.

Auch bei den Bürgerinne­n und Bürgern kommt das Taktieren der CDU nicht gut an. Laut einer repräsenta­tiven Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Civey für unsere Redaktion halten es 71 Prozent der Deutschen für falsch, dass der CDU-Chef trotz des schwachen Ergebnisse­s seiner Union Anspruch aufs Kanzleramt erhebt. 60 Prozent der Befragten schätzen sein Bestreben sogar als „eindeutig falsch“ein. Hinter Laschet stellen sich dagegen 22 Prozent der Deutschen, 14 Prozent der Befragten halten sein Ansinnen für „eindeutig richtig“.

Unterstütz­ung erhält Laschet mehrheitli­ch allein von Wählerinne­n und Wählern der Union. Laut Umfrage stellen sich im Kampf um die Merkel-Nachfolge 55 Prozent der Sympathisa­ntinnen und Sympathisa­nten von CDU/CSU hinter ihren Kandidaten. 32 Prozent von ihnen halten es jedoch für falsch, dass Laschet trotz des schwachen Abschneide­ns der Union weiterhin die Regierung anführen möchte.

So sehen es in der Mehrzahl auch die Anhängerin­nen und Anhänger von SPD, Grünen, FDP, AfD und Linke. Gerade einmal zwei Prozent der Wählerinne­n und Wähler von SPD und Linke sowie vier Prozent derer, die den Grünen nahestehen, finden es richtig, dass Laschet Anspruch aufs Kanzleramt erhebt.

Das ist Rückendeck­ung für die SPD. Die will sich den Wahlsieg nicht auf Umwegen von der Union abnehmen lassen. Kanzlerkan­didat Olaf Scholz bemüht sich intensiv um ein Bündnis mit FDP und Grünen. Die SPD möchte mit sechs Spitzenpol­itikern aus Bund und Ländern in die Sondierung­sgespräche gehen.

Neben Scholz selbst sollen nicht nur die Parteichef­s Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans am Verhandlun­gstisch sitzen, mitsondier­en werden auch Generalsek­retär Lars Klingbeil, Fraktionsc­hef Rolf Mützenich und die Ministerpr­äsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer. Scholz versucht, ein mögliches Ampel-Bündnis zu schmieden und ihm den Anstrich des politische­n Neubeginns zu verpassen. „Wenn drei Parteien, die den Fortschrit­t am Beginn der 20er Jahre im Blick haben, zusammenar­beiten, kann das etwas Gutes werden, selbst wenn sie dafür unterschie­dliche Ausgangsla­gen haben“, betonte er. Vor allem der

FDP versucht er die Vorzüge eines Bündnisses mit der SPD schmackhaf­t zu machen. Die schwarz-gelbe Koalition 2009 bis 2013 sei ein „abschrecke­ndes Beispiel“gewesen. Die Liberalen würden sich erinnern, wie schlecht dies für sie gelaufen sei. Tatsächlic­h könnte Scholz’ Taktik aufgehen. Sowohl die Liberalen als auch die Grünen zeigen sich offen für Gespräche – Laschet haftet das Verlierer-Image an, die SPD hingegen kann sich über Wählerzuwa­chs freuen. „Der Stern über Jamaika verblasst gerade ein wenig“, sagt der Berliner Wahlforsch­er Thorsten Faas. Und in dem Fall könnte es vergleichs­weise schnell gehen mit der Regierungs­bildung. Die Sorge vieler politische­r Beobachter war, dass Deutschlan­d erneut eine monatelang­e Hängeparti­e bevorsteht.

Wie stark beide Volksparte­ien, Union und SPD, verloren haben, zeigt eine Aufschlüss­elung des Meinungsfo­rschungsin­stitutes Forsa. Trotz der im Vergleich zur letzten Bundestags­wahl 2017 etwas höheren Wahlbeteil­igung ist die Zahl der Nichtwähle­r nach 2009 zum zweiten Mal bei einer Bundestags­wahl größer als die Zahl der Wähler der Union oder der SPD: 24 Prozent aller Wahlberech­tigten haben am Sonntag nicht gewählt beziehungs­weise eine ungültige Stimme abgegeben. Weniger als 20 Prozent aller Wahlberech­tigten (nicht der tatsächlic­hen Wähler) haben der CDU/CSU (18,3 Prozent) oder der SPD (19,5 Prozent) ihre Stimme gegeben. Und noch etwas fällt mit Blick auf die Wahlergebn­isse auf: Die Kluft zwischen den alten und neuen Ländern ist noch größer geworden. „So geht der Anteil der AfD im Westen des Landes deutlich zurück – so wie es auch bei früheren rechtsradi­kalen Bewegungen in der Vergangenh­eit zu beobachten war. Doch im Osten des Landes behauptet die AfD ihre starke Stellung“, analysiert ForsaChef Manfred Güllner. „Dies dürfte in erster Linie darauf zurückzufü­hren sein, dass sich die CDU in den neuen Ländern – anders als weite Teile der CDU in den alten Ländern und vor allem der CSU – nicht klar genug von der AfD abgrenzt.“

Lesen Sie zum Ausgang der Wahl auch den Kommentar und den Leitar‰ tikel sowie weitere Analysen auf der

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Foto: dpa, AZ Scholz oder Laschet? Trotz der historisch­en Verluste und erster kritischer Stimmen aus den eigenen Reihen will Armin Laschet versuchen, eine Regierung unter seiner Führung zu bilden – das Rennen ums Kanzleramt bleibt offen.

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