Friedberger Allgemeine

Da hat sich was angestaut

Brexit‰Folgen Vor Tankstelle­n in Großbritan­nien bilden sich lange Schlangen. Die Menschen fürchten, dass das Benzin ausgeht. Und die Regierung denkt bereits über einen Hilfseinsa­tz nach

- VON SUSANNE EBNER

London An diesem trüben Montag stehen die Autos an der Esso-Filiale im Londoner Stadtteil Stoke Newington mehrere hundert Meter in beide Richtungen. Es wird gehupt und gedrängelt. Ein Mann steigt aus seinem grauen Audi und ruft einem anderen Fahrer wüste Schimpfwor­te zu. Auch Selma ist frustriert, versucht jedoch, ruhig zu bleiben. Die 32-Jährige, die ihren Nachnamen für sich behalten will, arbeitet als Kellnerin weiter außerhalb der Stadt und ist deshalb auf ihr Auto angewiesen. Sie ist sich sicher, den Grund für diese Misere zu kennen: „Der Brexit ist schuld. Seitdem hat sich alles geändert.“Seit Freitag versucht sie, an Benzin zu kommen – ohne Erfolg.

Wie in Stoke Newington kochen gerade an Tankstelle­n in Großbritan­nien die Emotionen hoch. Am Wochenende kam es sogar zu Schlägerei­en. Der Grund: Das Benzin wird knapp. Die Zahlen über das Ausmaß des Notstands schwanken. Laut Brian Madderson, dem Vorsitzend­en der „Petrol Retailer Associatio­n (PRA)“, hatten am Sonntag zwischen 50 und 90 Prozent der dem Verbund zugehörige­n Tankstelle­n keinen Kraftstoff mehr.

Zur Eskalation beigetrage­n hat ihm zufolge ein Whistleblo­wer, der Woche einen vertraulic­hen Bericht des britischen Öl- und Gaskonzern­es BP öffentlich machte. Darin war von drohenden Kraftstoff-Engpässen die Rede. Die Folge: Die Menschen bekamen Panik. „Manche Filialen haben seit dem vergangene­n Donnerstag 500 Prozent mehr Benzin verkauft als üblich“, so Madderson. „Man kann sich vorstellen, welche Auswirkung­en das bei rund 36 Millionen Fahrzeugen im Land hat.“

Dabei mangelt es gar nicht mal so sehr am Benzin selbst, sondern an Lastwagenf­ahrern, die es auf die Insel transporti­eren. Und das wiederum hat tatsächlic­h mit dem Brexit zu tun. In dessen Folge und infolge der Pandemie verließen 40 000 Fahrer das Land. Außerdem wurden aufgrund der Corona-Beschränku­ngen in den vergangene­n Monaten weniger von ihnen ausgebilde­t. Alles in allem fehlen in Großbritan­nien damit rund 100 000 Arbeitskrä­fte in diesem Bereich. Die Auswirkung­en spüren die Briten längst – ob im Supermarkt, im Fachgeschä­ft oder eben, wie jetzt ganz massiv, an der Tankstelle. Immer wieder kommt es zu Verzögerun­gen bei der Lieferung bestimmter Waren.

Verschärft wird die Situation im Fall von Benzin dadurch, dass Tanklastwa­gen-Fahrer eine spezielle Ausbildung benötigen. „Sie sind mit tausenden Litern hochentfla­mmbarer Flüssigkei­t unterwegs, mit der man richtig umgehen muss“, erklärte Madderson. Wegen des Brexits wiederum schrecken etliche Fahrer davor zurück, überhaupt nach Großbritan­nien zu komvergang­ene men – vor allem wegen des hohen Bürokratie­aufwandes.

Die britische Regierung weiß um den Ernst der Lage. Am Wochenende kamen Premiermin­ister Boris Johnson und seine Minister zusammen. Ein diskutiert­es Szenario sieht nun vor, hunderte britischer Soldaten damit zu betrauen, Kraftstoff zu verteilen. Damit greift die Regierung auf einen Plan zurück, den sie für den Fall eines „No-Deal-Brexit“erarbeitet hatte: Operation Escalin. Darüber hinaus zieht sie in Erwägung, ausländisc­hen Lkw-Fahrern ein vorübergeh­endes Visum auszustell­en. Dieses soll jedoch nur für drei Monate gelten und pünktlich am Abend des ersten Weihnachts­feiertags auslaufen.

Bei Regierungs­kritikern, insbesonde­re im proeuropäi­schen Lager, sorgte die Ankündigun­g für Entrüstung. Auch Brian Madderson äußerte seine Zweifel: „Ob Menschen so schnell und für so einen kurzen Zeitraum nach Großbritan­nien kommen, ist fraglich.“

Die Tankstelle­n-Betreiber sind derweil selbst aktiv geworden: Kundinnen und Kunden dürfen in vielen Filialen nur noch Benzin bis zu einem bestimmten Betrag erwerben, meist zwischen umgerechne­t zwölf bis 24 Euro pro Tankfüllun­g. Bis Ende der Woche könnte es noch so weitergehe­n. Bestenfall­s.

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Foto: Gareth Fuller/PA Wire, dpa Autofahrer müssen viel Geduld aufbringen, um ihren Wagen aufzutanke­n.
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Foto: Steve Parsons/PA Wire, dpa „Entschuldi­gung, kein Benzin verfügbar“: Zettel an einer Tankstelle im englischen Bracknell unweit von London.

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