Auf der Suche nach Gerechtigkeit
In München beginnt der Prozess gegen den TÜV Süd. Welche Schuld hat das Unternehmen an dem verheerenden Dammbruch in Brasilien? Angehörige der Opfer sprechen von Verbrechen
Brumadinho Als Gustavo Barroso noch hoffte, dass seine Schwester Izabela den Dammbruch von Brumadinho überlebt haben könnte, sah er einmal seinen Vater. Der saß am Boden und weinte. Die Ungewissheit setzte ihm zu. „Wenn ich daran denke, gibt mir das die Kraft für das, was wir machen“, sagt Barroso im Video-Gespräch. Gemeinsam mit anderen klagt er gegen den TÜV Süd – und ist damit Teil eines internationalen Wirtschaftskrimis.
Am 25. Januar 2019 war der Damm an der Mine Córrego do Feijão gebrochen – eine Schlammlawine ergoss sich über die hügelige Landschaft des brasilianischen Bundesstaates Minas Gerais. Das brasilianische Tochterunternehmen des TÜV Süd hatte die Rückhaltebecken kurz vor dem Dammbruch noch geprüft und für sicher befunden. Die Schlammlawine wälzte sich über Teile der Mine und benachbarte Siedlungen, riss Gerätschaften und Häuser, Tiere und Menschen mit. Und begrub auch Izabela Barroso, Ingenieurin beim Bergbaukonzern Vale, unter sich. Wie viele der mindestens 260 Todesopfer machte sie damals gerade Mittagspause. Weitere zehn Menschen gelten noch immer als vermisst.
Um beim Auftakt im Zivilprozess gegen das deutsche Prüfunternehmen mit Sitz in München am Münchner Landgericht an diesem Dienstag dabei zu sein, wird Gustavo Barroso mit seinem älteren Bruder und Izabelas Mann nach Deutschland fliegen. Das schulde er seiner toten Schwester. „Wir wollen der Welt zeigen, dass das kein Unfall oder Unglück, sondern ein Verbrechen war“, sagt er. Seine Familie, der Mann seiner Schwester und die Gemeinde Brumadinho sind die Kläger in dem Musterverfahren.
„Nach anwendbarem brasilianischen Umweltrecht haften alle direkt oder indirekt an einer Umweltverschmutzung Beteiligten und daher auch die TÜV Süd AG“, erklärt ihr Anwalt Jan Erik Spangenberg
der Kanzlei Manner Spangenberg. Ziel sei, dass der TÜV Süd sich der Verantwortung stelle und freiwillig in eine Verhandlung über die Entschädigung von allen Opfern eintrete. Der TÜV Süd schreibt in einem Statement von einem schrecklichen Unglück. „Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Familien. Wir sind jedoch überzeugt, dass TÜV Süd keine rechtliche Verantwortung für den Dammbruch trägt. Die Haftung des Dammbetreibers wurde in Brasilien bereits festgestellt.“
Rund eine Woche nach dem Dammbruch identifizierte Gustavo Barroso Izabelas Leiche in Belo Horizonte, der Hauptstadt von Minas Gerais, wo die Gemeinde Brumadinho liegt. Minas Gerais heißt übersetzt „Allgemeine Minen“. Der Bundesstaat, etwa so groß wie Frankreich, ist reich an Bodenschätzen und verfügt über viele Abbaugebiete. Einst ließen die portugiesischen Kolonialherren dort Gold abbauen, heute sind es brasilianische und multinationale Unternehmen, die Eisenerz fördern.
Der Minenbetreiber Vale ist eines der größten Bergbauunternehmen der Welt. Und: Der Konzern steht für die größten Umweltkatastrophen Brasiliens: die „Tragödie von Mariana“, bei der 2015 der Damm des Staubeckens in einem Eisenerzbergwerk brach. 19 Menschen starben, hunderte Kilometer Fluss wurden verseucht. Und dann eben Brumadinho. Nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft von Minas Gerais war ein Zertifikat ausgestellt worden, obwohl den Prüfern der schlechte Zustand der Anlage und das Risiko bewusst waren. Ein verantwortlicher Prüfer hatte in Vernehmungen erklärt, sich von ValeVertretern unter Druck gesetzt gefühlt zu haben. An die brasilianische Justiz, die die Anklage gegen den Konzern und die Tochterfirma von TÜV Süd sowie 16 Mitarbeiter der beiden Unternehmen wegen Morvon des im Februar 2020 annahm, glaubt Barroso nicht. Gleichwohl: Die brasilianische Umweltgesetzgebung ist streng, weshalb Anwalt Spangenberg hofft, dass in München nach brasilianischem Recht verhandelt wird. In der Praxis mahlen die Mühlen der brasilianischen Justiz langsam, häufig kommen die Mächtigen ungeschoren davon.
„Wir kommen gegen Vale in Brasilien nicht an“, sagt Barroso. Seine Hoffnungen ruhen nun auf dem deutschen Gericht. Manner Spangenberg und die internationale Anwaltsfirma PGMBM vertreten nach Spangenbergs Angaben insgesamt circa 800 Angehörige von Opfern.
Sollte der TÜV Süd nicht an den Verhandlungstisch kommen, würden sie die Klage um die weiteren Betroffenen erweitern oder auch einzelne Klagen für weitere Betroffene einreichen, sagt der Anwalt. Schadenersatzforderungen in dreistelliger Millionenhöhe seien zu erwarten.