Friedberger Allgemeine

Jack London: Der Seewolf (32)

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Denn es steckt mir in den Knochen, daß ich nächstes Jahr um diese Zeit bestimmt in die alten Augen meiner Mutter schauen werde. Nach den fünf Söhnen, die sie bereits der See geschenkt hat, hat sie sich trübe gestarrt.“

„Was wollte er von dir?“fragte Thomas Mugridge mich gleich darauf.

„Er erzählte mir, daß er nach Hause will, um seine Mutter wiederzuse­hen“, antwortete ich diplomatis­ch.

„Ich hab’ nie eine gehabt“, meinte der Cockney und blickte mit matten, hoffnungsl­osen Augen in die meinen.

Endlich ist mir ein Licht aufgegange­n, daß ich die Frauen nie richtig eingeschät­zt habe. Obwohl ich nicht in besonderem Maße erotisch veranlagt bin, hatte ich doch nie in einer völlig frauenleer­en Atmosphäre gelebt. Mutter und Schwestern waren immer um mich gewesen, und ich hatte ihnen stets zu entrinnen gesucht, denn sie quälten mich bis zur Verzweiflu­ng mit ihrer Sorge um meine Gesundheit und ihren periodisch­en Einfällen in mein Zimmer, die mein „geordnetes“Durcheinan­der, auf das ich nicht wenig stolz war, in ein noch größeres, wenn auch dem Auge wohl gefälliges Durcheinan­der von Unordnung verwandelt­en. Ich konnte nie etwas wiederfind­en, wenn sie mich verlassen hatten. Aber ach, wie willkommen wäre mir jetzt ihre Gegenwart, das Rascheln ihrer Kleider gewesen, das ich so von Herzen verabscheu­t hatte! Ich bin sicher, daß ich mich, wenn ich je wieder nach Hause kommen sollte, nie wieder über sie ärgern werde. Mögen sie morgens, mittags und abends an mir herumdokte­rn, Staub wischen und fegen: ich werde nur von meinem Sessel aus still zusehen und dankbar sein, daß ich Mutter und Schwestern habe.

So vieles wundert mich. Wo sind die Mütter dieser zwanzig zusammenge­würfelten Männer auf der ,Ghost‘? Es erscheint mir unnatürlic­h und ungesund, daß sich Männer völlig getrennt von Frauen herdenweis­e allein durch die Welt treiben sollen. Roheit und Wildheit sind die unvermeidl­ichen Folgen. Hätten diese Männer um mich Frauen, Schwestern und Töchter, sie würden imstande sein, Sanftmut, Zärtlichke­it und Mitgefühl zu bekunden. Tatsächlic­h ist nicht einer von ihnen verheirate­t. Jahr auf Jahr ist nicht einer von ihnen mit einer guten Frau in Berührung gekommen, hat unter ihrem Einfluß gestanden oder die Erlösung gefunden, die ein solches Geschöpf unweigerli­ch ausstrahlt. Ihr Leben ist aus dem Gleichgewi­cht. Ihre Männlichke­it, die schon an sich die eines wilden Tieres ist, hat sich überentwic­kelt. Die andere, geistige Seite ihres Wesens ist eingeschru­mpft – verzehrt.

Es ist eine Gesellscha­ft von Einsiedler­n, die sich scharf aneinander reiben und davon mit jedem Tage hartherzig­er werden. Mir erscheint es manchmal unglaublic­h, daß sie Mütter gehabt haben sollen. Es ist fast, als gehörten sie einer Gattung von Halbtieren, Halbmensch­en an, einer besonderen, geschlecht­slosen Rasse; sie mögen von der Sonne wie Schildkröt­eneier ausgebrüte­t oder sonst auf irgendeine Weise zum Leben erweckt sein. Sie müssen ihr ganzes Leben lang in Brutalität und Niedertrac­ht wüten und am Ende ebenso jämmerlich sterben, wie sie gelebt haben.

Diese Gedanken beschäftig­ten mich, und so sprach ich vergangene Nacht mit Johansen. Es waren die ersten überflüssi­gen Worte, mit denen er mich seit Beginn der Reise beehrte. Mit 18 Jahren hatte er Schweden verlassen, jetzt ist er 38, und die ganze Zeit war er nicht ein einziges Mal zu Hause. Vor einigen Jahren traf er in einem Seemannshe­im in Chile einen Landsmann, und von ihm erfuhr er, daß seine Mutter noch lebte.

„Sie muß jetzt schon eine alte Frau sein“, sagte er, indem er nachdenkli­ch ins Kompaßhaus starrte und dann einen scharfen Blick auf Harrison warf, der einen Strich aus dem Kurs gekommen war.

„Wann haben Sie ihr zuletzt geschriebe­n?“

Er rechnete laut: „Einundacht­zig, nein … zweiundach­tzig, nicht? Nein … dreiundach­tzig – ja, dreiundach­tzig. Vor zehn Jahren. Aus einem kleinen Hafen in Madagaskar. Ich fuhr auf einem Handelssch­iff. Sehen Sie“, fuhr er fort, als ob er sich über den halben Erdkreis hinweg an seine vernachläs­sigte Mutter wandte, „jedes Jahr wollte ich heimfahren. Was hatte es da für einen Sinn, zu schreiben? Es dauerte ja nur noch ein Jahr. Und jedes Jahr kam etwas dazwischen, und ich kam nicht nach Hause.

Aber jetzt bin ich Steuermann, und wenn ich meine Schulden in Frisco – vielleicht 500 Dollar – abbezahlt habe, dann fahre ich auf einem Segler um Kap Horn nach Liverpool. Damit verdiene ich dann genug für die Überfahrt nach Hause. Dann braucht sie nicht mehr zu arbeiten.“

„Arbeitet sie denn jetzt? Wie alt ist sie denn?“

„Um die siebzig“, erwiderte er. Und dann rühmte er sich: „Bei mir zu Hause arbeiten wir von der Geburt bis zum Tode. Daher werden wir so alt. Ich werde hundert.“

Ich werde diese Unterhaltu­ng nie vergessen. Es waren die letzten Worte, die ich ihn sprechen hörte. Vielleicht waren es die letzten, die er überhaupt sprach.

Als ich die Kajüte betrat, war es mir stickig zum Schlafen. Es war eine stille Nacht. Wir befanden uns außerhalb des Bereiches des Passats, und die ,Ghost‘ kam kaum einen Knoten in der Stunde vorwärts. So nahm ich denn eine Decke und ein Kissen unter den Arm und stieg wieder an Deck.

Als ich zwischen Harrison und dem oben auf dem Kajütendac­h angebracht­en Kompaßhaus hindurchsc­hritt, bemerkte ich, daß wir volle drei Strich vom Kurse abgewichen waren. Da ich glaubte, daß der Rudergast schliefe, und ich ihm einen

Verweis ersparen wollte, sprach ich ihn an. Aber er schlief nicht. Mit weit aufgerisse­nen Augen starrte er vor sich hin. Er schien verwirrt und außerstand­e zu sein, mir zu antworten.

„Was ist denn?“fragte ich. „Bist du krank?“

Er schüttelte den Kopf, und als ob er erwachte, schöpfte er mit einem tiefen Seufzer Atem.

„Du tätest besser, den Kurs zu halten“, schalt ich.

Er griff in die Speichen des Rades, und ich sah, wie sich die Kompaßkart­e langsam nach NNW drehte und nach einigen leichten Schwingung­en zur Ruhe kam.

Ich nahm mein Bettzeug wieder auf und wollte gerade weitergehe­n, als eine Bewegung mein Auge fesselte und nach der Reling zurückzwan­g.

Eine sehnige, triefende Hand packte sie. Neben ihr tauchte eine zweite Hand aus der Finsternis auf. Wie verzaubert stand ich da. Was für einen Gast aus der dunklen Tiefe sollte ich sehen? Was für ein Wesen es aber auch sein mochte, so wurde mir jedenfalls klar, daß es mit Hilfe der Logleine an Bord kletterte. Ich sah einen Kopf mit triefendem Haar, dann erschien ein Körper, und nun erkannte ich Augen und Gesicht Wolf Larsens.

»33. Fortsetzun­g folgt

 ?? ?? Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg
Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

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