An eine Diktatur kann man sich gewöhnen
Die russische Märchenfarce „Der Drache“, geschrieben unter Stalin, kommt auf die Brechtbühne
Ausgerechnet unter Stalins Diktatur entstand ein Theaterstück, das den Tyrannen entlarvte und trotzdem fast unangreifbar war. Im Tarnmantel des Märchenspiels führte der russische Autor Jewgeni Schwarz in seiner Farce „Der Drache“die Mechanismen der Macht vor. Im Staatstheater Augsburg inszeniert es nun Andreas Merz-Raykov, der zuletzt die packende, dokumentarische Collage „Insulted. Belarus“leitete, auf der Brechtbühne.
Eigentlich sollte „Der Drache“schon vor einem Jahr herauskommen, doch pandemiebedingt landete es auf Halde. „Es ist gar nicht schlecht, wenn man ein bisschen Abstand hat, man schaut nochmals anders drauf, kann sogar noch etwas besser machen“, sagt der Regisseur. „Aber seltsam ist es schon, man befindet sich in einer merkwürdigen Zeitschleife. Als wir diese Woche zu proben begonnen haben, stand im Gaswerk das Bühnenbild wieder genauso da, wie wir es vor einem Jahr verlassen haben.“Doch alle Schauspieler seien rasch wieder in ihren Rollen drin gewesen, nur reicher um ihre Erfahrungen von Freiheitsbeschränkung im Lockdown.
Freiheit ist das große Thema von Jewgeni Schwarz. Sein Stück schrieb er 1943 unter dem Eindruck der deutschen Blockade von Leningrad. Als es 1944 in Moskau Premiere haben sollte, setzten es die Zensoren nach der Generalprobe ab. „Aber ohne Begründung und ohne dass sie Schwarz belangt haben. Sie hatten nämlich erkannt, dass der Drache Parallelen zu Stalin hat. Das konnten sie aber nicht sagen, sonst hätten sie ja Stalin kritisiert“, schildert Merz-Raykov die süffisante Zwickmühle: In dem Stück erkennen sich Diktatoren wieder – sie wollen sich offiziell aber nicht wiedererkennen, sonst wären sie ja Diktatoren.
„Jewgeni Schwarz hat einen interessanten Trick angewandt: Er nahm einen Plot, der uns allen bekannt vorkommt – ein Held kommt in eine Stadt, die seit 400 Jahren von einem Drachen besetzt ist, und er befreit die Stadt. Doch anstatt dass sich die Leute über ihre Freiheit freuen, verteidigen sie den Drachen: Uns geht’s doch gut. Eine Jungfrau soll ihm geopfert werden? Ja schon, aber man kann da nichts machen.“Folgerichtig springt nach des Drachen Tod der Bürgermeister in die Bresche, setzt die Tyrannei fort und verlangt auch noch von Elsa, die dem Drachen geopfert werden sollte, ihn zu heiraten, „als Beweis, dass jetzt die schlimme Zeit vorbei ist“.
Merz-Raykov ließ sich ein suggestives Bühnenbild von Jan Hendrik Neidert und Lorena Diaz Stephens bauen. Er wollte eine typische Märchenbühne, zweidimensional wie ein Rokoko-Theater. Zugleich wirkt es aber unheimlich, manchmal wie ein großes Auge, das alle überwacht. Oder wie eine Röhre, an deren Ende der schreckliche Nosferatu lauert. Oder die Embleme der Diktaturen des 20. Jahrhundert eingesetzt werden können: Hakenkreuz oder Hammer und Sichel. So wandlungsfähig sei auch der Drache. „Er verändert sich ständig, er ist mal ein alter Mann, eine junge Frau – Ute Fiedler hat rumexperimentiert.“
Eine besondere Geschichte hat „Der Drache“in der DDR erlebt. Als Benno Besson ihn 1965 im Deutschen Theater in Berlin inszenierte, hat sich die Führung der DDR im Bürgermeister wiedererkannt. „Damals ist viel diskutiert worden darüber: Wer ist denn der Nachfolger des Drachens? Aus deutscher Perspektive war klar: Der Drache muss Hitler sein, aber ist der Bürgermeister die BRD oder die SED? Da wurde zwar im Programmheft herausgestellt, dass der Bürgermeister die BRD sein muss. Aber das Publikum hat es trotzdem anders gesehen“, erzählt Andreas Merz-Raykov. Es war die erfolgreichste Inszenierung der DDR mit 580 Vorstellungen, obwohl sie dank des Märchentricks so systemkritisch war, aber niemand der Diktator sein mochte.
Merz-Raykov hält das Stück für hochaktuell. Es enthält die Frage, ob die Leute, die eine Diktatur geformt hat, überhaupt schon bereit sind für die Freiheit. „So dachte man in Belarus in den 90er Jahren, die Freiheit wohnt um die Ecke, wir müssen nur hingehen. Sie haben nicht verstanden, dass Freiheit etwas ist, woran man arbeiten muss“, erklärt der Regisseur. Übertragen gilt das auch für Fragen des Systemwechsels, die uns selbst bevorstehen, etwa, ob man wegen des fortschreitenden Klimawandels den Kohleausstieg vorziehen sollte oder den Verbrennungsmotor abschaffen – mit allen Konsequenzen für die zukünftige Energiegewinnung.