Voller Unschuld – und voller List
Olga Peretyatko reißt in Bad Wörishofen erst musikalisch und dann auch szenisch hin
Bad Wörishofen Wem der Vorrang gebührt, dem Wort oder dem Ton, dies ist eine uralte Debatte in der Operngeschichte. Wie wesentlich auf der Bühne aber auch die Balance zwischen Gesang einerseits, Schauspielkunst mit Mimik, Gestik, Körpersprache andererseits ist, das ließ sich nun trefflich beim Arienabend Olga Peretyatkos im Bad Wörishofener Kurhaus anlässlich des Festivals der Nationen studieren.
Pausenlos durchgespielt, hatte der Abend in gewisser Weise doch zwei Teile: den ersten, in dem Olga Peretyatko, diese international gefeierte Koloratur- und Belcanto-Sopranistin, mehr auf apollinische Vokallinie, Schönklang, sängerischen Edelmut setzte, und einen zweiten Teil, in dem sie dramatisch stärker – und damit bühnenwirksamer – zupackte. Jeder der beiden Teile hatte, rein musikalisch betrachtet, stärkste Überzeugungskraft; aber sängerdarstellerisch entfesselt zeigte sich die 1980 im damaligen Leningrad geborene Peretyatko erst mit Mozarts „Idomeneo“-Elektra und in Rossini-Arien.
Zuvor hatte sie rein Ohr und Seele berührt – vor allem als eine ausgesprochen weich artikulierende, weich intonierende MozartSchmerzensfrau, die zu erdulden und zu korrigieren hat, was Männer anrichteten. Dass die Peretyatko als „Figaro“-Susanna, „Figaro“-Gräfin, „Titus“-Vitellia und „Don Giovanni“-Anna dies mit gezielt sparsam eingesetzten Vibrato tut, ist so geschmackssicher wie kostbar. Eher ein betrübliches altes Lied anstimmend als eine impulsdurchzuckte Arie, macht sie zu einer Identifikationsfigur für ein mitleidendes Publikum. Peretyatko als zu tröstendes Opfer.
Dann aber krempelt sie die Ärmel hoch, gerät außer sich, kocht innerlich und droht empört als Elettra. Trauer weicht der angekündigten Tat, auch als Rossini-Semiramide und Rossini-Rosina („Barbier von Sevilla“), die die Peretyatko königinnenhaft-kapriziös und raffiniert durchtrieben gibt. Da blitzt plötzlich ein facettenreiches Psychogramm zwischen vollkommener Unschuld und faustdicker FrauenList auf.
Es endet in Triumph und Ovationen, sicherlich auch, weil die „Prague Royal Philharmonic“– was für ein englischsprachiges Wortgeklingel als Name! – unter Heiko Mathias Förster in allen Programmpunkten des Abends auf ausgesprochen sorgsame musikalische Formulierung achtete, nicht auf Überrumpelung durch Lautstärke und Temporekorde. So auch bei den Ouvertüren „Entführung aus dem Serail“, „Zauberflöte“, „Norma“.
Dass es Zugaben geben musste nach Rossinis Kabinettstückchen „Una voce poco fa“war klar: Olga Peretyatko summte – nicht sonderlich textverständlich – Gershwins „Summertime“und brillierte dann als Shakespeare-Julia in der musikdramatischen Fassung Gounods.