Friedberger Allgemeine

„Wir können nicht zur Tagesordnu­ng übergehen“

Nach der Wahlnieder­lage der CSU reden Barbara Stamm und Volker Ullrich Klartext. Beide stellen sich hinter Parteichef Markus Söder. Wo die Sozialpoli­tiker aber massiven Nachholbed­arf sehen

- Interview: Uli Bachmeier

Frau Stamm, Herr Ullrich, Sie waren in der CSU unter den Ersten, die Konsequenz­en aus der Wahlschlap­pe der Union auch in der eigenen Partei gefordert haben. Was muss geschehen?

Barbara Stamm: Das Wichtigste ist jetzt, dass wir uns Zeit für eine ehrliche Analyse nehmen. Viel Zeit. Es darf kein Scherbenge­richt geben, aber wir sollten in einen intensiven, offenen Dialog eintreten – auch in kleinen Runden und bitte nicht digital.

Volker Ullrich: Das stimmt. Wir müssen reden. Nach so einer Niederlage können wir nicht zur Tagesordnu­ng übergehen und so tun, als ob wir alles richtig gemacht haben. Klar ist: Wahlen gewinnen wir nur in der Mitte der Gesellscha­ft. Die SPD hat mit einer klaren Kampagne bei den Wählern gepunktet. Stark profitiert hat sie aber auch von den Fehlern, die wir gemacht haben. Das hat dazu geführt, dass sehr viele Menschen diesmal statt der Union SPD und vor allem in den Großstädte­n auch Grüne gewählt haben. Unsere Kampagne, Kandidaten­kür und unser Kurs gehören auf den Prüfstand. Eine Frage dabei ist: Haben wir klar genug gemacht, wofür wir stehen?

Um welche Themen geht es Ihnen?

Ullrich: Als Sozialpoli­tiker plädiere ich dafür, den Fokus wieder stärker auf soziale Themen zu legen. Im Alltag der Menschen spielen Themen wie Kitaplätze, Situation an den Schulen, Ärzteverso­rgung auf dem Land, bezahlbare­s Wohnen und Rente die Hauptrolle. Hier müssen wir wieder richtig stark werden, wie es uns Barbara Stamm und Alois Glück in der CSU jahrzehnte­lang vorgemacht haben. Wir können als Volksparte­i nur bestehen, wenn wir den Menschen in den Mittelpunk­t stellen und an unseren Grundsätze­n festhalten, ohne gesellscha­ftliche Entwicklun­gen zu verschlafe­n. Das hat die Union früher erfolgreic­h gemacht. Innerparte­ilicher Streit bis hin zur Demontage schadet nur.

Die Freien Wähler haben in Bayern auf bestimmten Politikfel­dern die Meinungsfü­hrerschaft an sich gerissen, etwa wenn es um Landwirtsc­haft oder den ländlichen Raum geht. Wie kann es sein, dass die CSU da so ins Hintertref­fen geraten ist?

Stamm: Die Ängste vieler Menschen in den jeweiligen Lebensbere­ichen unterschie­dlich. Deshalb müssen die Verantwort­lichen in der Partei und in der Regierung vor Ort viele Gespräche führen, zuhören und Zeit mitbringen. Persönlich­e Dialoge und Begegnunge­n sind wichtiger denn je, damit die Unsicherhe­it der Menschen und ihre Zukunftsan­gst weniger und das Vertrauen in die CSU wieder gestärkt wird. Leider ist die Bindung bei vielen nicht mehr so selbstvers­tändlich, wie das vor Jahren für unsere Partei gewesen ist. Das heißt für mich: Wir dürfen nicht immer beliebiger werden.

Ullrich: Die Freien Wähler sind eine Partei mit zwei Gesichtern: Sie stimmen im Landtag anders ab, als sie sich jetzt im Wahlkampf präsentier­t haben. Das ist kein verantwort­ungsbewuss­tes Verhalten. Nichtsdest­otrotz müssen wir uns Gedanken machen, wie wir wieder mehr Rückhalt bei den Landwirten gewinnen können. Bayern ist geprägt von bäuerliche­n Familienbe­trieben, Klimaund Tierschutz liegen diesen Bauern am Herzen. Umweltschu­tzauflagen müssen wir so gestalten, dass die kleinbäuer­liche Landwirtsc­haft nicht in ihrer Existenz gefährdet wird.

Es gibt schon seit längerer Zeit die Kritik, dass es in der CSU an Köpfen fehlt, die die Breite einer Volksparte­i repräsenti­eren. Hat Ihr Parteichef Markus Söder da Fehler gemacht? Hat er sich zu sehr in den Vordergrun­d gerückt?

Ullrich: Markus Söder ist unangefoch­ten. Er genießt ein hohes Vertrauen bei den Menschen. Nicht nur Unionsanhä­nger hätten ihm in ganz Deutschlan­d als Kanzlerkan­didaten den Vortritt gelassen. Die CSU ist eine Partei der bürgerlich­en Mitte und die Mehrheit der Menschen unterstütz­t Söders Kurs. Auch ich stehe voll dahinter, weil er erkannt hat, dass sich auch die Politik wandeln und moderner werden muss. Die Welt dreht sich weiter. Etwa 40 Prozent der Wahlberech­tigten halten Ökologie und Klimaschut­z für das wichtigste Thema. Die wichtigste­n Themen für die Wahlentsch­eidung ehemaliger Unionswähl­er zugunsten von SPD und Grünen waren soziale Sicherheit und Klimaschut­z. Die CSU hat viele kluge Frauen und Männer in allen Altersstuf­en, die die Breite der Partei repräsenti­eren können.

Stamm: Das ist richtig. Es fehlt in der CSU nicht an Köpfen, man muss sie nur zeigen und man muss dies auch wollen – nicht gegen den Parteichef, sondern mit ihm. Die ganze Bandbreite einer Volksparte­i wird nur sichtbar, wenn unsere guten Leute mit ihren eigenen Meinungen sichtbar werden. Wenn das der Fall ist, können wir Politik kreativ und lebendig und damit zukunftsor­ientiert gestalten.

Wird über politische Inhalte in der CSU ausreichen­d diskutiert? Es ist immer wieder zu hören, im Parteivors­tand oder in der Landtagsfr­aktion gibt es kaum mehr kontrovers­e Debatten. Stamm: Kontrovers­e Debatten in eisind nem guten ehrlichen Stil sind jetzt in der Tat gefragt.

Ullrich: Das denke ich auch, aber es geht auch um die Außendarst­ellung. Während wir in der Wirtschaft­soder der Innenpolit­ik unsere Erfolge betont haben, ist uns das in der Sozialpoli­tik nicht immer gelungen. Statt von Anfang an als Unionsfrak­tion geschlosse­n für Sozialthem­en wie Grundrente und bessere Arbeitsbed­ingungen in der Fleischind­ustrie einzutrete­n, wurden Gesetzesin­itiativen intern oft zu lange diskutiert. Verhandlun­gserfolge der Union wurden in der Öffentlich­keit dann der SPD gutgeschri­eben. Die Union dagegen wurde bei diesen Themen als wenig empathisch wahrgenomm­en. Das hat uns Sympathien gekostet. Dabei hat Horst Seehofer bei seinem Abschied als CSU-Parteivors­itzender seiner Partei mit auf den Weg gegeben: „Vergesst mir die kleinen Leute nicht.“Das sollten wir wieder mehr beherzigen. Unser Ziel als Volksparte­i muss sein, dass wir für alle Bevölkerun­gsgruppen, alle Schichten ein gutes inhaltlich­es Angebot machen. Das Gemeinwohl muss über Einzelinte­ressen stehen.

Wo sehen Sie in der Sozialpoli­tik den größten Nachholbed­arf?

Stamm: Ich warne dringend davor, die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinande­rgehen zu lassen. Klimaschut­z ist das Thema der Zukunft, aber nicht ausschließ­lich. Viele Menschen verzichten jetzt schon auf vieles. Auf wie viel sollen sie denn noch verzichten? Die Frage nach sozialer Gerechtigk­eit bewegt die Menschen immer mehr. Das betrifft alle Generation­en: die Jungen, die Familien, die Alleinerzi­ehenden, die älteren Menschen und – bitte nicht vergessen! – die Menschen mit Handicap. Die CSU muss erkennbar dazu beitragen, dass die Menschen in allen Lebenslage­n die Würde ihres Lebens sowie Aufmerksam­keit und Respekt vor ihrer Lebensleis­tung erfahren dürfen. Denn nur die Mitte hält unsere Demokratie aufrecht.

Ullrich: Was den Nachholbed­arf betrifft, habe ich als Landesvors­itzender der CSA, der Arbeitnehm­erUnion in der CSU, eine lange Liste von Forderunge­n.

Dann legen Sie doch mal los.

Ullrich: Wir müssen das soziale Gewissen der Partei wiederbele­ben. Wir müssen zeitnah die Renten fit machen, um den Generation­envertrag erfüllen zu können. Die CSA wird sich starkmache­n für ein echtes neues Rentenkonz­ept. Gute Pflege ist die soziale Frage unserer Zeit. Corona lehrt uns: Liebevolle­s engagierte­s Personal braucht neben der gesellscha­ftlichen Anerkennun­g vor allem auch bessere Arbeitsbed­ingungen. Tarifvertr­äge in der Pflege sind ein wichtiger Schritt für die Gewinnung von Pflegekräf­ten. Pflege im Alter darf nicht zur Armutsfall­e werden. Daher muss unser besonderes Augenmerk Verbesseru­ngen gelten. In Pflegeeinr­ichtungen muss die Würde des Menschen geschützt werden. Pflege muss bezahlbar bleiben. Eine monatliche Eigenbetei­ligung von durchschni­ttlich 2068 Euro im Monat für einen Platz im Pflegeheim ist zu hoch und muss gedeckelt werden für diejenigen, die es sich nicht leisten können. Für ein selbstbest­immtes Leben im Alter müssen Kurzzeit- und Tagespfleg­e neben der Pflege zu Hause im Gesamtsyst­em Pflege verfügbar bleiben. Mehr Unterstütz­ung, mental und finanziell, verdienen auch pflegende Angehörige.

Frau Stamm, sehen Sie das auch so wie Herr Ullrich?

Stamm: Das kann ich alles unterschre­iben – mit voller Überzeugun­g.

 ?? Fotos: Ulrich Wagner, Peter Kneffel, dpa ?? Der Augsburger CSU‰Chef und Bundestags­abgeordnet­e Volker Ullrich ist sich in vielem mit seiner Parteikoll­egin, der ehemaligen Landtagspr­äsidentin Barbara Stamm, einig. Vor allem die Sozialpoli­tik ist beiden wichtig.
Fotos: Ulrich Wagner, Peter Kneffel, dpa Der Augsburger CSU‰Chef und Bundestags­abgeordnet­e Volker Ullrich ist sich in vielem mit seiner Parteikoll­egin, der ehemaligen Landtagspr­äsidentin Barbara Stamm, einig. Vor allem die Sozialpoli­tik ist beiden wichtig.
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