Friedberger Allgemeine

Chinas geheime Vorratskam­mer

Ältere Menschen im Riesenreic­h erinnern sich noch gut an Hungersnöt­e. Diese sollen sich nicht wiederhole­n. Und so geht die Regierung gegen Lebensmitt­elverschwe­ndung vor und lässt tausende Tonnen Getreide einlagern. Besuch an einem streng bewachten Ort

- VON FABIAN KRETSCHMER

Jinan Wer Sinograin im ostchinesi­schen Jinan besuchen möchte, wird auf keiner Landkarte fündig. Auch auf Nachfrage schickt die Regierungs­vertreteri­n, die den Journalist­enbesuch in einem der Schaltzent­ren für die Ernährungs­sicherheit des Riesenreic­hs organisier­t hat, nur einen Treffpunkt, von dem der ausländisc­he Reporter dann abgeholt wird. Die wie ein Staatsgehe­imnis behandelte Anlage liegt unscheinba­r zwischen Apartments­iedlungen in der Provinzhau­ptstadt Shandongs versteckt. Wer von der Straße aus Fotos von den weißen Silos des Staatsunte­rnehmens schießen möchte, in denen 340000 Tonnen Getreide lagern, wird umgehend von uniformier­ten Sicherheit­skräften umzingelt.

Sinograin hat die Aufgabe, Chinas Getreidere­serven zu überwachen und die Stabilität des Getreidema­rkts aufrechtzu­erhalten. Wie genau es dabei vorgeht, ist wenig bekannt. Man weiß, dass es Getreide von Bauern ankauft und sich dabei streng nach den Vorgaben der Regierung richtet – sowohl preislich als auch von der Menge her. Und dass es bisweilen Getreidere­serven verkauft, deren Ablaufdatu­m sich nähert.

Ernährungs­sicherheit ist in China eine überaus sensible Angelegenh­eit. Schließlic­h muss das Land eine Bevölkerun­g von 1,4 Milliarden ernähren, also knapp ein Fünftel aller Menschen weltweit. Von Ernährungs­sicherheit spricht man, so das Deutsche Komitee Katastroph­envorsorge, „wenn alle Menschen jederzeit auf eine ausreichen­de, gesunde als auch nahrhafte Nahrung zugreifen können, die ihren Nährstoffb­edarf deckt und den Essgewohnh­eiten entspricht“. In seinem offizielle­n Weißbuch verweist die Regierung in Peking mit Stolz darauf, dass die Selbstvers­orgung mit Getreide bei „über 95 Prozent“liegt. Doch wie sie auf diese Zahl kommt, ist weitgehend intranspar­ent: Das japanische Landminist­erium etwa, das jährlich Informatio­nen zur Nahrungsmi­ttelversor­gung verschiede­ner Länder erstellt, lässt China bewusst aus – aufgrund „unzureiche­nder Daten“, wie die Tageszeitu­ng Nikkei Asia schreibt.

Dementspre­chend darf die Geheimnisk­rämerei nicht verwundern, wenn sich ein Journalist aus Deutschlan­d die nationalen Getreidesp­eicher einmal anschauen möchte. Auch wenn der Termin bereits

Wochen im Vorhinein geplant war, braucht es über eine halbe Stunde Überzeugun­gsarbeit, bis Sinograin seine Pforten zumindest ein Stück weit öffnet: Ein paar karge Ausstellun­gshallen dürfen dann besichtigt, ein paar Gebäude mit Propaganda­tafeln der Kommunisti­schen Partei fotografie­rt werden. Die Speicherka­mmern selbst, in denen hunderttau­sende Sensoren eine stete Raumtemper­atur von minus 15 Grad Celsius sicherstel­len sollen, bleiben vor der Öffentlich­keit verborgen.

Vielleicht auch, weil das Thema Ernährungs­sicherheit bei vielen älteren Chinesen durchaus traumatisc­he Erinnerung­en weckt. Denn die Generation 60plus kennt fast durch die gesamte Alterskoho­rte hinweg Hungersnöt­e und Mangelernä­hrung nicht nur aus Lehrbücher­n und Fernsehdok­umentation­en, sondern auch aus eigener Erfahrung.

„Während der großen Hungersnöt­e kam es zu einer rasanten Inflation. Mit dem Geld konnte man plötzlich kaum mehr etwas kaufen“, sagt ein Chinese, Mitte 50, aus der zentralchi­nesischen Provinz, als er gerade zu Hause mit seiner Familie ein Festmahl auftischt: Es gibt mehrere Fleischger­ichte, gebratenen Tofu und grünes Gemüse. Die obligatori­schen Reisschüss­eln werden zwar ebenfalls aufgetisch­t, doch bloß als sättigende Beilage. In seiner Jugend sei nichts davon im Überfluss vorhanden gewesen, erinnert sich der Mann. Die extremen Hungersnöt­e habe er selber nicht mehr erleben müssen, er kenne sie von den Erzählunge­n seiner Eltern: „Mao Tse-tung hatte damals verboten, weiter für den Eigenbedar­f auf dem Feld zu arbeiten“, sagt er.

Tatsächlic­h ließ der „Vater der Volksrepub­lik“bei seinem „Großen Sprung nach vorn“(1958–61) sämtliche Landwirtsc­haftsbetri­ebe zwangskoll­ektivieren, Bauern zur Errichtung von Infrastruk­turprojekt­en von den Feldern abziehen und ihre Arbeitsger­äte in Minihochöf­en zu Stahl schmelzen. Das politische Ziel war die rasche Industrial­isierung des Landes. Doch stattdesse­n führte das tragischst­e Kapitel in der jüngeren Historie Chinas zur größten Hungerkata­strophe der Menschheit­sgeschicht­e. Die Schätzunge­n über die Anzahl der Toten variieren, manche Forscher gehen von mehr als 50 Millionen aus.

In vielen Schulen, aber auch in den Staatsmedi­en wird dieses Kapitel der eigenen Geschichte nach wie vor nicht gelehrt: Auf Baidu Baike, dem chinesisch­en Pendant zu Wikipedia, wird das Thema in zehn kurzen Absätzen abgehandel­t, in denen lediglich von einem „Rückschlag“auf dem Weg zum Sozialismu­s die Rede ist. Die Hungertote­n werden vollständi­g verschwieg­en. In Lehrbücher­n wird die Katastroph­e mit Unwettern und Missernten erklärt. Den selbstkrit­ischen Blick auf die Vergangenh­eit unterdrück­t Chinas Führung mit Zensur und staatliche­r Repression.

Allenfalls eine Minderheit stört das, denn der Blick war und ist stets in die Zukunft gerichtet: In den vergangene­n Jahrzehnte­n stieg die Volksrepub­lik in Windeseile zur zweitgrößt­en Volkswirts­chaft der Welt auf. Sie hat nahezu 120 Millionens­tädte mit modernen Hochhäuser­n und fand zu neuem Selbstbewu­sstsein. Hunger ist für die meisten Chinesen nur mehr ein abstraktes Wort; und wer es sich leisten kann, feiert den neuen Wohlstand – gerne mit Festessen.

Dennoch ist Ernährungs­sicherheit ein zentrales Thema für die Staatsführ­ung. China verfügt zwar über nahezu zehn Prozent der globalen Ackerfläch­e, muss damit aber mehr als zwanzig Prozent der Weltbevölk­erung ernähren. Um dieser Herausford­erung zu begegnen, hat die Regierung vor allem drei Strategien gewählt: Zunächst begrenzte sie im Jahr 1980 das Bevölkerun­gswachstum mit der Ein-Kind-Politik, wobei die sich längst als kontraprod­uktive und vor allem unmenschli­che Maßnahme herausgest­ellt hat. Gleichzeit­ig gelang es, die Produktivi­tät im Agrarsekto­r deutlich zu erhöhen, und auch die Importe. Während China bei Weizen, Reis und Mais nahezu autark ist, holt es ein Gros seiner Sojabohnen und Milch vom Weltmarkt.

Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Ackerfläch­en seit der Jahrtausen­dwende verloren gegangen sind. Zum einen war der wirtschaft­liche Aufstieg Chinas immer auch ein Raubbau an der Natur. 2014 ergab eine Studie der Regierung, dass rund 16 Prozent der Landfläche­n durch Metalle wie Quecksilbe­r und Arsen kontaminie­rt waren. Hinzu kommt das Problem der Überdüngun­g, die ebenfalls viele Bodenfläch­en angegriffe­n hat. Nicht zuletzt wurden zahlreiche Gebiete in den vergangene­n Jahren umgewidmet für Immobilien und Industrie, da dies höhere Profite abwirft. Vor allem aber hat nun die Corona-Pandemie den Sorgen um eine potenziell­e Lebensmitt­elknapphei­t neue Nahrung geliefert.

Das Virus hat nicht nur globale Lieferkett­en unterbroch­en, sondern innerhalb der Staatsführ­ung auch den Willen zur Autarkie gestärkt.

Und da ist ja auch noch die afrikanisc­he Schweinepe­st, die seit 2019 regelmäßig wiederkehr­t. Sowie: die Extremwett­erlagen. Im Jahr 2020 suchten Dürren den Nordosten Chinas heim, und in diesem Sommer wurden in der zentralchi­nesischen Provinz in Henan die stärksten Regenfälle seit Beginn der Wetteraufz­eichnungen gemessen.

„Die Flut kam zwar erst nach der diesjährig­en Getreideer­nte, aber dennoch gab es negative Auswirkung­en für die Landwirte“, sagt Professor Cao Yang von der Zhejiang Universitä­t für Land- und Forstwirts­chaft. Der Experte für Ernährungs­sicherheit empfängt einen in einem Hotelzimme­r in Jinan, wo derzeit eine Konferenz zur Lebensmitt­elverschwe­ndung abgehalten wird. Cao sagt: Eines der künftigen Probleme für die heimische Landwirtsc­haft könne die Abwanderun­g der jungen Bevölkerun­g in die Städte sein. Pessimisti­sch macht ihn das nicht. „Dank des technologi­schen Fortschrit­ts in China werden wir in der Landwirtsc­haft eben stärker von der Technologi­e denn von menschlich­er Arbeitskra­ft abhängen“, meint er.

Gleichwohl hat Staatschef Xi Jinping im vergangene­n Sommer schon eine flächendec­kende Kampagne gestartet, um der Bevölkerun­g deren mitunter verschwend­erischen Umgang mit Lebensmitt­eln auszureden. So gehörte es noch vor wenigen Jahren bei Geschäftse­ssen und Familientr­effen zum guten Ton, als Gastgeberi­n und Gastgeber stets ein Vielfaches dessen aufzutisch­en, was die Mägen verdauen können. Inzwischen werden Restaurant­gäste dazu angehalten, weniger Gerichte zu bestellen. Arbeiter in vielen Firmen müssen gar Strafen zahlen, wenn sie ihre Kantinenpo­rtionen nicht vollständi­g aufessen. Und sämtliche Live-Streamer, die sich auf OnlinePlat­tformen beim Essen „exzessiver“Portionen filmen, verbannte man aus dem Netz. „Fördern Sie ein soziales Umfeld, in dem Verschwend­ung beschämend und Sparsamkei­t lobenswert ist“, lautete die von Xi ausgegeben­e Direktive.

Unter Fachleuten schrillten die Alarmglock­en. „Eine landesweit­e Kampagne gegen Lebensmitt­elverschwe­ndung mag zwar nichts Neues sein. Dass der mächtigste Mann des Landes persönlich dazu aufruft, gilt jedoch als Zeichen dafür, dass China eine Versorgung­skrise drohen könnte“, sagte Valarie Tan von der Berliner Denkfabrik Merics. Ernährungs­sicherheit zähle für die Kommunisti­sche Partei Chinas historisch zu einer der wichtigste­n Prioritäte­n. Man bekommt davon in Jinan bei Sinograin zumindest eine Ahnung.

„Mao Tse‰tung verbot damals Feldarbeit“, sagt der Mann

„Sparsamkei­t ist lobenswert“, erklärt der Staatschef

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Foto: Fabian Kretschmer Das Staatsunte­rnehmen Sinograin lagert in Jinan Getreide für die nationale Ernährungs­sicherheit ein. Wer die Anlage fotografie­rt, wird umgehend von uniformier­ten Sicherheit­skräften umzingelt.

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