Chinas geheime Vorratskammer
Ältere Menschen im Riesenreich erinnern sich noch gut an Hungersnöte. Diese sollen sich nicht wiederholen. Und so geht die Regierung gegen Lebensmittelverschwendung vor und lässt tausende Tonnen Getreide einlagern. Besuch an einem streng bewachten Ort
Jinan Wer Sinograin im ostchinesischen Jinan besuchen möchte, wird auf keiner Landkarte fündig. Auch auf Nachfrage schickt die Regierungsvertreterin, die den Journalistenbesuch in einem der Schaltzentren für die Ernährungssicherheit des Riesenreichs organisiert hat, nur einen Treffpunkt, von dem der ausländische Reporter dann abgeholt wird. Die wie ein Staatsgeheimnis behandelte Anlage liegt unscheinbar zwischen Apartmentsiedlungen in der Provinzhauptstadt Shandongs versteckt. Wer von der Straße aus Fotos von den weißen Silos des Staatsunternehmens schießen möchte, in denen 340000 Tonnen Getreide lagern, wird umgehend von uniformierten Sicherheitskräften umzingelt.
Sinograin hat die Aufgabe, Chinas Getreidereserven zu überwachen und die Stabilität des Getreidemarkts aufrechtzuerhalten. Wie genau es dabei vorgeht, ist wenig bekannt. Man weiß, dass es Getreide von Bauern ankauft und sich dabei streng nach den Vorgaben der Regierung richtet – sowohl preislich als auch von der Menge her. Und dass es bisweilen Getreidereserven verkauft, deren Ablaufdatum sich nähert.
Ernährungssicherheit ist in China eine überaus sensible Angelegenheit. Schließlich muss das Land eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden ernähren, also knapp ein Fünftel aller Menschen weltweit. Von Ernährungssicherheit spricht man, so das Deutsche Komitee Katastrophenvorsorge, „wenn alle Menschen jederzeit auf eine ausreichende, gesunde als auch nahrhafte Nahrung zugreifen können, die ihren Nährstoffbedarf deckt und den Essgewohnheiten entspricht“. In seinem offiziellen Weißbuch verweist die Regierung in Peking mit Stolz darauf, dass die Selbstversorgung mit Getreide bei „über 95 Prozent“liegt. Doch wie sie auf diese Zahl kommt, ist weitgehend intransparent: Das japanische Landministerium etwa, das jährlich Informationen zur Nahrungsmittelversorgung verschiedener Länder erstellt, lässt China bewusst aus – aufgrund „unzureichender Daten“, wie die Tageszeitung Nikkei Asia schreibt.
Dementsprechend darf die Geheimniskrämerei nicht verwundern, wenn sich ein Journalist aus Deutschland die nationalen Getreidespeicher einmal anschauen möchte. Auch wenn der Termin bereits
Wochen im Vorhinein geplant war, braucht es über eine halbe Stunde Überzeugungsarbeit, bis Sinograin seine Pforten zumindest ein Stück weit öffnet: Ein paar karge Ausstellungshallen dürfen dann besichtigt, ein paar Gebäude mit Propagandatafeln der Kommunistischen Partei fotografiert werden. Die Speicherkammern selbst, in denen hunderttausende Sensoren eine stete Raumtemperatur von minus 15 Grad Celsius sicherstellen sollen, bleiben vor der Öffentlichkeit verborgen.
Vielleicht auch, weil das Thema Ernährungssicherheit bei vielen älteren Chinesen durchaus traumatische Erinnerungen weckt. Denn die Generation 60plus kennt fast durch die gesamte Alterskohorte hinweg Hungersnöte und Mangelernährung nicht nur aus Lehrbüchern und Fernsehdokumentationen, sondern auch aus eigener Erfahrung.
„Während der großen Hungersnöte kam es zu einer rasanten Inflation. Mit dem Geld konnte man plötzlich kaum mehr etwas kaufen“, sagt ein Chinese, Mitte 50, aus der zentralchinesischen Provinz, als er gerade zu Hause mit seiner Familie ein Festmahl auftischt: Es gibt mehrere Fleischgerichte, gebratenen Tofu und grünes Gemüse. Die obligatorischen Reisschüsseln werden zwar ebenfalls aufgetischt, doch bloß als sättigende Beilage. In seiner Jugend sei nichts davon im Überfluss vorhanden gewesen, erinnert sich der Mann. Die extremen Hungersnöte habe er selber nicht mehr erleben müssen, er kenne sie von den Erzählungen seiner Eltern: „Mao Tse-tung hatte damals verboten, weiter für den Eigenbedarf auf dem Feld zu arbeiten“, sagt er.
Tatsächlich ließ der „Vater der Volksrepublik“bei seinem „Großen Sprung nach vorn“(1958–61) sämtliche Landwirtschaftsbetriebe zwangskollektivieren, Bauern zur Errichtung von Infrastrukturprojekten von den Feldern abziehen und ihre Arbeitsgeräte in Minihochöfen zu Stahl schmelzen. Das politische Ziel war die rasche Industrialisierung des Landes. Doch stattdessen führte das tragischste Kapitel in der jüngeren Historie Chinas zur größten Hungerkatastrophe der Menschheitsgeschichte. Die Schätzungen über die Anzahl der Toten variieren, manche Forscher gehen von mehr als 50 Millionen aus.
In vielen Schulen, aber auch in den Staatsmedien wird dieses Kapitel der eigenen Geschichte nach wie vor nicht gelehrt: Auf Baidu Baike, dem chinesischen Pendant zu Wikipedia, wird das Thema in zehn kurzen Absätzen abgehandelt, in denen lediglich von einem „Rückschlag“auf dem Weg zum Sozialismus die Rede ist. Die Hungertoten werden vollständig verschwiegen. In Lehrbüchern wird die Katastrophe mit Unwettern und Missernten erklärt. Den selbstkritischen Blick auf die Vergangenheit unterdrückt Chinas Führung mit Zensur und staatlicher Repression.
Allenfalls eine Minderheit stört das, denn der Blick war und ist stets in die Zukunft gerichtet: In den vergangenen Jahrzehnten stieg die Volksrepublik in Windeseile zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt auf. Sie hat nahezu 120 Millionenstädte mit modernen Hochhäusern und fand zu neuem Selbstbewusstsein. Hunger ist für die meisten Chinesen nur mehr ein abstraktes Wort; und wer es sich leisten kann, feiert den neuen Wohlstand – gerne mit Festessen.
Dennoch ist Ernährungssicherheit ein zentrales Thema für die Staatsführung. China verfügt zwar über nahezu zehn Prozent der globalen Ackerfläche, muss damit aber mehr als zwanzig Prozent der Weltbevölkerung ernähren. Um dieser Herausforderung zu begegnen, hat die Regierung vor allem drei Strategien gewählt: Zunächst begrenzte sie im Jahr 1980 das Bevölkerungswachstum mit der Ein-Kind-Politik, wobei die sich längst als kontraproduktive und vor allem unmenschliche Maßnahme herausgestellt hat. Gleichzeitig gelang es, die Produktivität im Agrarsektor deutlich zu erhöhen, und auch die Importe. Während China bei Weizen, Reis und Mais nahezu autark ist, holt es ein Gros seiner Sojabohnen und Milch vom Weltmarkt.
Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Ackerflächen seit der Jahrtausendwende verloren gegangen sind. Zum einen war der wirtschaftliche Aufstieg Chinas immer auch ein Raubbau an der Natur. 2014 ergab eine Studie der Regierung, dass rund 16 Prozent der Landflächen durch Metalle wie Quecksilber und Arsen kontaminiert waren. Hinzu kommt das Problem der Überdüngung, die ebenfalls viele Bodenflächen angegriffen hat. Nicht zuletzt wurden zahlreiche Gebiete in den vergangenen Jahren umgewidmet für Immobilien und Industrie, da dies höhere Profite abwirft. Vor allem aber hat nun die Corona-Pandemie den Sorgen um eine potenzielle Lebensmittelknappheit neue Nahrung geliefert.
Das Virus hat nicht nur globale Lieferketten unterbrochen, sondern innerhalb der Staatsführung auch den Willen zur Autarkie gestärkt.
Und da ist ja auch noch die afrikanische Schweinepest, die seit 2019 regelmäßig wiederkehrt. Sowie: die Extremwetterlagen. Im Jahr 2020 suchten Dürren den Nordosten Chinas heim, und in diesem Sommer wurden in der zentralchinesischen Provinz in Henan die stärksten Regenfälle seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gemessen.
„Die Flut kam zwar erst nach der diesjährigen Getreideernte, aber dennoch gab es negative Auswirkungen für die Landwirte“, sagt Professor Cao Yang von der Zhejiang Universität für Land- und Forstwirtschaft. Der Experte für Ernährungssicherheit empfängt einen in einem Hotelzimmer in Jinan, wo derzeit eine Konferenz zur Lebensmittelverschwendung abgehalten wird. Cao sagt: Eines der künftigen Probleme für die heimische Landwirtschaft könne die Abwanderung der jungen Bevölkerung in die Städte sein. Pessimistisch macht ihn das nicht. „Dank des technologischen Fortschritts in China werden wir in der Landwirtschaft eben stärker von der Technologie denn von menschlicher Arbeitskraft abhängen“, meint er.
Gleichwohl hat Staatschef Xi Jinping im vergangenen Sommer schon eine flächendeckende Kampagne gestartet, um der Bevölkerung deren mitunter verschwenderischen Umgang mit Lebensmitteln auszureden. So gehörte es noch vor wenigen Jahren bei Geschäftsessen und Familientreffen zum guten Ton, als Gastgeberin und Gastgeber stets ein Vielfaches dessen aufzutischen, was die Mägen verdauen können. Inzwischen werden Restaurantgäste dazu angehalten, weniger Gerichte zu bestellen. Arbeiter in vielen Firmen müssen gar Strafen zahlen, wenn sie ihre Kantinenportionen nicht vollständig aufessen. Und sämtliche Live-Streamer, die sich auf OnlinePlattformen beim Essen „exzessiver“Portionen filmen, verbannte man aus dem Netz. „Fördern Sie ein soziales Umfeld, in dem Verschwendung beschämend und Sparsamkeit lobenswert ist“, lautete die von Xi ausgegebene Direktive.
Unter Fachleuten schrillten die Alarmglocken. „Eine landesweite Kampagne gegen Lebensmittelverschwendung mag zwar nichts Neues sein. Dass der mächtigste Mann des Landes persönlich dazu aufruft, gilt jedoch als Zeichen dafür, dass China eine Versorgungskrise drohen könnte“, sagte Valarie Tan von der Berliner Denkfabrik Merics. Ernährungssicherheit zähle für die Kommunistische Partei Chinas historisch zu einer der wichtigsten Prioritäten. Man bekommt davon in Jinan bei Sinograin zumindest eine Ahnung.
„Mao Tsetung verbot damals Feldarbeit“, sagt der Mann
„Sparsamkeit ist lobenswert“, erklärt der Staatschef