Energiepreise rufen Nervosität hervor
Seit Monaten steigen in ganz Europa die Gas- und Strompreise auf immer neue Rekordstände. In der EU wächst die Sorge, dass die Preise den ambitionierten Green Deal gefährden könnten
Brüssel Wenn Europas Wirtschaftsund Finanzministerinnen und Finanzminister zusammentreffen, stehen in der Regel technische Fragen zur Bankenunion ganz oben auf der Agenda. Die Tatsache, dass sie diese Woche als Priorität die Energiepreise diskutierten, zeigt die Dringlichkeit des Problems. Seit Monaten werden Gas und Strom in Europa teurer – und das in solch einer Geschwindigkeit, dass sich Verbraucherinnen und Verbraucher wie auch Unternehmen kaum vorbereiten können. Im Schnitt sind die Preise europaweit um rund 250 Prozent nach oben geklettert. In Deutschland ist Strom an der Börse seit Januar rund 140 Prozent teurer geworden, in Spanien sogar 425 Prozent. Die Treiber seien „temporäre Faktoren und die hohen Erdgaspreise“, sagte EU-Vizekommissionspräsident Valdis Dombrovskis.
Neben der hohen Gas-Nachfrage infolge des weltweiten Wirtschaftsaufschwungs sind auch die gestiegenen Kosten für CO2-Zertifikate verantwortlich. Nun müsse laut Dombrovskis ein Weg gefunden werden, wie die Staatengemeinschaft die Herausforderung koordiniert angehen könne. Gas wird genutzt zum Heiaber auch zur Stromerzeugung – der fossile Brennstoff hat dementsprechend auch Einfluss darauf, wie viel Strom kostet. Wenn überhaupt, so der Handelskommissar, stärke die derzeitige Krise das Argument, „sich von fossilen Brennstoffen weg und hin zu erneuerbaren Energieträgern zu bewegen, um die Abhängigkeit zu senken“.
In den Hauptstädten sorgt die Entwicklung für Nervosität. Die Angst vor Energiearmut wie auch sozialen Spannungen ist groß. Die Regierungen haben noch die Bilder aus Frankreich im Kopf, als vor gut zwei Jahren die Gelbwesten-Bewegung zu Demonstrationen aufgerufen hatten. Auslöser war eine von Präsident Emmanuel Macron geplante höhere Besteuerung von Benzin und Diesel, um die Energiewende zu finanzieren.
Es kommt deshalb kaum überraschend, dass es Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire war, der vor dem zweitägigen Treffen in Luxemburg einen Brief an seine Amtskolleginnen und Amtskollegen verschickte. Darin forderte er, dass die EU-Länder ihre Reaktion auf die gestiegenen Energiepreise abstimmen. Außerdem sei es von entscheidender Bedeutung, „andere Energiequellen zu erschließen und die europäische Abhängigkeit von Gas exportierenden Ländern so schnell wie möglich zu verringern“. Das wiederum durfte als Kritik am Kurs Deutschlands verstanden werzen, den. In Paris betrachtet man den Atomausstieg als Fehler, weil dieser Europa in eine Abhängigkeit von Russland treibe.
Um die Kostenspirale abzufedern, kündigte die französische Regierung an, die Preise für Gas und Strom bis April zu deckeln. Italien will drei Milliarden Euro ausgeben, um Haushalten einen Teil ihrer Strom- und Gasrechnungen zu erlassen. In Spanien, wo es im Sommer bereits zu Protesten kam, wurde die Mehrwertsteuer auf Strom vorübergehend gesenkt.
Rufe nach EU-Maßnahmen gegen die rasant steigenden Energiepreise werden lauter. Bei dem Treffen der Finanz- und Wirtschaftsminister der 19 Euro-Länder forderte die spanische Wirtschaftsministerin Nadia Calvino ein gemeinsames Vorgehen: „Das ist kein Thema, das wir auf nationaler Ebene angehen können. Wir glauben, dass wir eine europäische koordinierte Antwort brauchen.“Trotz der Forderungen blieb unklar, wie und ob die Behörden in Brüssel kurzfristig eingreifen können. „Koordination ist der Schlüssel“, sagte Paolo Gentiloni, der in der Kommission ebenfalls für Wirtschaft zuständig ist. Die EUKommission will bald einen „Werkzeugkasten“, eine Art Leitfaden vorstellen, wie die Mitgliedstaaten den Preissprüngen am Energiemarkt entgegenwirken können. Denn für die Behörde kommt die Krise zu einer Unzeit.
In Brüssel herrscht die Sorge, dass der Preisschock den Green Deal gefährden könnte. Das ambitionierte Programm, das Europa bis 2050 klimaneutral machen soll, wollte man zügig verabschieden. Das aber scheint unter den derzeitigen Umständen kaum vorstellbar. Denn die Umsetzung dürfte zu steigenden Rechnungen bei den Bürgerinnen und Bürgern führen.
„Die Menschen sollen nicht vor der Frage stehen müssen, ob sie sich ein warmes Zuhause leisten können“, sagte der industriepolitische Sprecher der SPD-Europaabgeordneten, Jens Geier. Die Lösung sei „eine bessere Energieeffizienz und ein schnellerer Ausbau der erneuerbaren Energien“.
Beim EU-Gipfel in Brüssel in drei Wochen soll das Thema wieder auf der Tagesordnung stehen. Gentiloni sagte, die Vorschläge von Spanien, Frankreich und Griechenland zum gemeinsamen Einkauf oder zur Lagerung seien Teil der Diskussionen. Dies zeigt, wie beunruhigt die Regierungen kurz vor den kalten Wintermonaten sind.