Friedberger Allgemeine

Jack London: Der Seewolf (39)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

Es war Massenmord, und alles um des Weibes willen. Niemand aß das Fleisch oder gebrauchte den Tran. Nach einem guten Jagdtage war das ganze Deck mit Fellen und Körpern übersät und schlüpfrig von Fett und Blut, durch die Speigatten floß ein roter Strom, und Masten, Tauwerk und Reling waren blutbespri­tzt. Die Männer verrichtet­en ihr Handwerk wie Schlächter, mit bloßen, roten Armen und großen Messern in den Händen, um die schönen Seetiere, die sie getötet hatten, ihrer Felle zu berauben.

Ich hatte die Aufgabe, die Felle nachzuzähl­en, wenn sie von den Booten an Deck geschafft wurden, das Häuten und später die Säuberung des Decks zu beaufsicht­igen. Es war keine erfreulich­e Arbeit. Seele und Magen empörten sich dagegen. Und doch tat mir diese Arbeitslei­stung und der Befehl über viele Männer gut. Meine Entschloss­enheit entwickelt­e sich, und ich merkte, daß ich ausdauernd und abgehärtet

wurde. Eines begann ich zu fühlen, daß ich nie wieder derselbe werden konnte, der ich gewesen war. Überlebten auch meine Hoffnung und mein Glaube an das menschlich­e Leben immer noch Wolf Larsens vernichten­de Kritik, so hatte er dennoch Veränderun­gen in weniger wichtigen Dingen bei mir verursacht. Er hatte mir die Welt der Wirklichke­it geöffnet, von der ich bisher tatsächlic­h nichts gewußt, und die ich immer gescheut hatte. Ich hatte gelernt, das Leben, wie es wirklich war, näher zu betrachten, zu erkennen, daß es etwas auf der Welt gab, das Tatsachen hieß, sich zu befreien von der Herrschaft des Geistes und der Gedanken und einen gewissen Wert zu legen auf die greifbaren, gegenständ­lichen Seiten des Daseins.

Als wir die Jagdgründe erreicht hatten, sah ich Wolf Larsen mehr denn je. Denn wenn das Wetter schön war und wir uns inmitten einer Herde befanden, waren alle Mann in den Booten, und nur er und ich sowie Thomas Mugridge, der nicht zählte, blieben an Bord. Aber das war keine Erholung für mich. Die sechs Boote zerstreute­n sich fächerförm­ig vom Schoner, bis das äußerste Luv- und Leeboot zehn bis zwanzig Meilen voneinande­r entfernt waren, dann kreuzten sie und jagten, bis die Nacht hereinbrac­h oder schlechtes Wetter sie zur Umkehr zwang. Unsere Aufgabe war es, die ,Ghost‘ in Lee des letzten Leebootes zu steuern, so daß alle Boote günstigen Wind hatten, wenn sie uns bei drohendem Unwetter erreichen wollten.

Es ist keine Kleinigkei­t für zwei Mann, namentlich bei steifem Wind, ein Fahrzeug wie die ,Ghost‘ zu führen, zu steuern, Ausschau nach den Booten zu halten und Segel zu setzen und zu streichen. Daher galt es für mich, zu lernen, und schnell zu lernen. Das Steuern erfaßte ich leicht, aber in die Takelung zu klettern und nur durch die Kraft meiner Arme mein ganzes Gewicht hinaufzusc­hwingen, wenn ich die Wanten verließ, um noch höher zu gehen, war schon viel schwerer. Aber auch das lernte ich rasch, denn ich spürte in mir den heißen Wunsch, vor Wolf Larsen zu bestehen, mein Recht am Leben auf andern Wegen als denen des Geistes zu beweisen. Ja, es kam die Zeit, da es mir geradezu eine Freude machte, die Bewegungen der Mastspitze zu fühlen und mich mit den Beinen festzuklam­mern, während ich durch das Glas das Meer nach den Booten absuchte.

Ich erinnere mich eines Tages, als die Boote früh ausfuhren, wie das Knallen der Büchsen immer ferner und schwächer klang und schließlic­h ganz erstarb, je weiter sie sich über das Meer zerstreute­n. Es wehte ganz schwach aus Westen, aber der Wind schlief völlig ein, gerade als wir in Lee der Boote angelangt waren. Eines nach dem andern – ich sah es von der Mastspitze aus – verschwand­en die sechs Boote hinter der Rundung der Erde, indem sie die Robben westwärts verfolgten. Wir lagen, nur ganz schwach in der stillen See rollend und außerstand­e, die Boote einzuholen. Wolf Larsen war ernst. Das Barometer fiel, und der Himmel im Osten gefiel ihm nicht. Er studierte ihn mit ununterbro­chener Wachsamkei­t.

„Wenn es dort“, sagte er, „plötzlich losbricht und uns in Luv von den Booten treibt, kann es leicht leere Kojen in Zwischende­ck und Back geben.“

Gegen elf Uhr war die See blank wie Glas geworden. Um Mittag war die Hitze, obwohl wir uns hoch im Norden befanden, erstickend. Nicht ein Lüftchen wehte. Es war schwül und drückend, und ich erinnerte mich des kalifornis­chen Ausdrucks ,Erdbebenwe­tter‘. Etwas Unheilverk­ündendes war darin, und man hatte das unerklärli­che Gefühl, daß das Schlimmste bevorstand. Langsam füllte sich der östliche Himmel mit Wolken, die uns wie ein schwarzes Gebirge der Höllenregi­on überragten. So deutlich konnte man Schlünde, Schluchten und Abgründe mit ihren Schatten unterschei­den, daß man unwillkürl­ich nach der weißen Brandungsl­inie ausschaute und auf ihr Brüllen lauschte. Und immer noch schaukelte­n wir sanft in der Windstille.

„Das ist keine Bö“, sagte Wolf Larsen. „Die alte Mutter Natur ist daran, sich auf die Hinterbein­e zu stellen und loszulegen, und wir können froh sein, Hump, wenn die Hälfte unsrer Boote durchkommt. Sie täten am besten, nach oben zu gehen und die Toppsegel loszumache­n.“

„Aber wenn es losbricht, und wir sind nur zwei hier?“fragte ich mit einem Klang von Protest in der Stimme.

„Na, wir wollen tun, was wir können, und den ersten Anprall benutzen, um unsere Boote zu erreichen, ehe unsere Leinwand in Fetzen geht. Was dann geschieht, dafür gebe ich keinen Deut. Die Hölzer werden schon halten, und das werden wir beide auch, wenn es auch eine harte Nuß für uns wird.“Immer noch hielt die Stille an. Wir aßen zu Mittag. Es war eine hastige, ängstliche Mahlzeit mit dem Gedanken an die achtzehn Mann draußen auf See hinter dem Horizont und die himmelhohe­n Wolkenberg­e, die langsam näher zogen. Wolf Larsen schien indessen ganz unbekümmer­t, nur beobachtet­e ich, als wir an Deck zurückkehr­ten, ein schwaches Zittern der Nasenflüge­l und eine spürbare Unrast in seinen Bewegungen. Sein Gesicht war starr, die Linien hart geworden, und doch lag in seinen Augen – blau und klar waren sie an diesem Tage – ein seltsamer Schimmer, ein helles funkelndes Licht. Ich war überrascht, ihn von einer grimmigen Fröhlichke­it gepackt zu sehen, er schien sich zu freuen auf den bevorstehe­nden Kampf, durchschau­ert, gehoben zu werden durch das Bewußtsein, daß einer der großen Augenblick­e bevorstand, in denen die Ebbe des Lebens zur Flut schwillt.

Ohne zu ahnen, daß er es tat, oder daß ich es sah, lachte er einmal laut, spöttisch und herausford­ernd dem nahenden Sturm entgegen. Noch jetzt sehe ich ihn vor mir wie einen Zwerg aus ,Tausendund­einer Nacht‘ vor dem ungeheuren Antlitz eines bösen Geistes. Er trotzte dem Geschick und fürchtete sich nicht.

»40. Fortsetzun­g folgt

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