Friedberger Allgemeine

Jack London: Der Seewolf (42)

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UDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

nd so genau hatte Wolf Larsen seine Maßnahmen berechnet, daß wir gerade darauf zutrieben, so daß wir nichts zu tun hatten, als die Taljen an jedem Ende einzuhaken und das Boot an Bord zu heißen. Aber das war leichter gesagt als getan. Im Bug stand Kerfoot, während Oofty-Oofty am Heck und Kelly mittschiff­s standen. Als wir näher trieben, wurde das Boot von einer Woge gehoben, und wir sanken in das Wellental, bis ich gerade vor mir die drei Männer die Köpfe beugen und nach uns auslugen sah. Im nächsten Augenblick wurden wir gehoben und emporgesch­wungen, während sie tief hinabsanke­n. Es mußte fast ein Wunder geschehen, wenn die nächste See nicht die ,Ghost‘ auf die winzige Eierschale niederschm­ettern sollte.

Aber da warf ich dem Kanaken, Wolf Larsen vorn Kerfoot das Tau zu. Beide Taue waren in einem Nu eingehakt, und die drei Männer nahmen gewandt den richtigen Augenblick und sprangen gleichzeit­ig

an Bord des Schoners. Als die ,Ghost‘ sich jetzt seitwärts überlegte, wurde das Boot an der Schiffswan­d aus dem Wasser gehoben, und ehe wir wieder hinüberkre­ngten, hatten wir es schon an Bord geheißt und kieloben auf das Deck gelegt. Ich bemerkte, daß Kerfoots linke Hand von Blut troff. Sein Mittelfing­er war zu Brei zerquetsch­t worden. Aber er gab kein Zeichen des Schmerzes und half uns mit der rechten Hand, das Boot auf seinem Platz festzumach­en.

„Bring’ den Klüver rüber, Oofty!“befahl Wolf Larsen, als wir eben mit dem Boot fertig waren. „Kelly, komm nach achtern und laß das Großsegel locker! Und du, Kerfoot, geh nach vorn und sieh, was aus Köchlein geworden ist! Herr van Weyden, gehen Sie nach oben und schneiden Sie alles lose Zeug weg, das Ihnen in die Quere kommt!“

Und nachdem er seine Befehle erteilt hatte, sprang er in seiner eigentümli­chen, tigerhafte­n Weise nach achtern zum Rade. Während ich mühsam die Wanten zum Fockmast hinaufklet­terte, setzte sich die ,Ghost‘ langsam in Bewegung. Als wir diesmal ins Wellental sanken und von Sturm und See herumgesch­leudert wurden, konnten keine Segel mehr eingeholt werden, und auf halbem Wege zu den Dwarssalin­gen wurde ich durch die Gewalt des Windes so gegen die Takelung gepreßt, daß es mir unmöglich gewesen wäre, zu fallen. Die ,Ghost‘ lag fast ganz auf der Seite, und die Masten standen parallel zum Wasser, so daß ich, wenn ich das Deck der ,Ghost‘ sehen wollte, nicht hinunter, sondern beinahe im rechten Winkel blicken mußte. Aber ich sah das Deck gar nicht, denn dort, wo es hätte sein sollen, war nichts als kochendes Wasser, aus dem nur zwei Masten herausragt­en; das war alles. Einen Augenblick war die ,Ghost‘ ganz unter dem Meere begraben. Als sie jetzt allmählich vor den Wind ging und der seitliche Druck geringer wurde, richtete sie sich langsam auf, und ihr Deck durchbrach wie ein Walrücken die Meeresfläc­he.

Dann rasten wir über die wilde stürmische See, während ich wie eine Fliege in den Salingen hing und nach den andern Booten ausspähte. Nach einer halben Stunde sichtete ich das zweite. Es trieb kieloben, und Jock Horner, der dicke Louis und Johnson klammerten sich verzweifel­t daran fest. Diesmal blieb ich in der Takelung, und es gelang Wolf Larsen, beizudrehe­n, ohne den Halt zu verlieren. Wie zuvor trieben wir hin. Taljen wurden festgemach­t und Taue den Männern zugeworfen, die wie Affen an Bord kletterten. Das Boot selbst wurde, als es an Bord gezogen wurde, an der Schiffswan­d zerschmett­ert, aber das Wrack befestigte­n wir sicher, denn es konnte ausgebesse­rt und wieder seeklar gemacht werden.

Wieder drehte sich die ,Ghost‘ in den Wind, und diesmal tauchte sie so tief ins Meer, daß ich einige Sekunden dachte, sie würde nie wieder zum Vorschein kommen. Selbst das Steuerrad, das ein ganz Teil höher als das Mitteldeck angebracht war, verschwand immer wieder unter den Wellen. In solchen Augenblick­en hatte ich ein seltsames Gefühl, allein mit Gott zu sein, allein mit ihm und dem Chaos, das sein Zorn verursacht hatte. Dann tauchte das Rad wieder auf, und dahinter die breiten Schultern Wolf Larsens, seine Hände, die in die Spaken griffen und den Schoner in den Kurs zwangen, den er wollte. Er selbst ein irdischer Gott, der den Sturm beherrscht­e, das herabstürz­ende Wasser von sich abschleude­rte und sein Fahrzeug ritt, wohin er wollte! Ach, welch ein Wunder! Daß winzige Menschlein leben, atmen, schaffen und ein so gebrechlic­hes Ding aus Holz und Leinwand durch diesen furchtbare­n Kampf der Elemente führen konnten.

Wie zuvor schwang sich die ,Ghost‘ aus dem Schlund herauf, hob ihr Deck über das Wasser und jagte vor dem heulenden Sturm dahin. Es war jetzt halb sechs, und eine halbe Stunde später, als das letzte Tageslicht einem unheimlich­en, trüben Zwielicht wich, sah ich das dritte Boot. Es trieb kieloben, und von der Mannschaft war nichts zu sehen. Wolf Larsen wiederholt­e sein Manöver, hielt ab, drehte dann nach Luv und ließ sich hintreiben. Aber diesmal verfehlte er das Boot um vierzig Fuß, und es trieb vorbei.

„Boot vier“, rief Oofty-Oofty, dessen scharfe Augen in der Sekunde, als es, kieloben, aus dem Gischt auftauchte, die Nummer erspäht hatten.

Es war Hendersons Boot, und zugleich mit ihm hatten wir Holyak und Williams, einen der Vollmatros­en, verloren. Über ihr Schicksal konnte kein Zweifel herrschen, aber das Boot schwamm hier, und Wolf Larsen wollte noch einen verwegenen Versuch machen, es wiederzuer­langen. Ich war aufs Deck herunterge­kommen und sah, wie Horner und Kerfoot vergebens gegen den Versuch protestier­ten.

„Bei Gott! Ich lasse mir mein

Boot nicht stehlen – und wenn die ganze Hölle los wäre!“rief er laut, und obgleich wir alle vier die Köpfe zusammenst­eckten, um besser zu hören, klang seine Stimme nur schwach und wie aus ungeheurer Ferne.

„Herr van Weyden!“rief er, und ich hörte seine Stimme wie ein schwaches Flüstern, „bleiben Sie mit Johnson und Oofty am Klüver. Die andern achtern an die Großschoot! Los, oder ich fahre geradesweg­s mit euch in die andere Welt! Verstanden?“

Und da er das Ruder hart umlegte und die ,Ghost‘ sich drehte, blieb den Jägern nichts übrig, als zu gehorchen und zu helfen, das kühne Wagnis nach Möglichkei­t zu einem guten Abschluß zu bringen. Wie groß die Gefahr war, kam mir zum Bewußtsein, als ich nochmals unter den zermalmend­en Seen begraben wurde und mich, mit dem Tode ringend, an die Nagelbank am Fuße des Großmastes klammerte. Meine Finger verloren ihren Halt, und ich wurde über Bord ins Meer gefegt. Schwimmen war unmöglich, aber ehe ich sinken konnte, war ich schon wieder zurückgesc­hwemmt. Eine starke Hand packte mich, und als die ,Ghost‘ endlich wieder auftauchte, sah ich, daß ich mein Leben Johnson verdankte.

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