Aus dem Leben gerissen, ehe es begann
Schicksal Wenn Babys vor der Geburt sterben, ist das für Familien ein schwerer Schlag. Welche Erfahrungen Eltern von Sternenkindern gemacht haben, wie ihnen geholfen wird und eine Fotografin Momente tiefster Trauer konserviert
Pflaumloch „Für uns war sie das schönste Kind“, sagt Mareike Mährle. Sie spricht über ihre Tochter Lotta, die sie vor vier Jahren zur Welt gebracht hat. Lotta ist ein sogenanntes Sternenkind – sie wurde aus dem Leben gerissen, ehe es überhaupt begann.
Mit diesem Schicksal ist die Familie nicht allein. Auch wenn sogenannte stille Geburten selten sind, kommen sie immer wieder vor und verändern das Leben der Eltern grundlegend. Um der Kinder zu gedenken, gibt es sogar einen eigenen Erinnerungstag: den 15. Oktober.
Mareike Mährle und ihr Mann leben in Pflaumloch, nahe Nördlingen an der bayerisch-baden-württembergischen Grenze. Das Ehepaar hatte bereits eine Tochter, als die heute 37-Jährige wieder schwanger wurde – mit Zwillingen. Michel und Lotta. Zunächst war alles gut. Doch ab der 14. Schwangerschaftswoche erkannte der Arzt bei einem Kind unklare Wassereinlagerungen. Es habe wohl das Downsyndrom, hieß es. Den werdenden Eltern war sofort klar: „Wir wollen beide Kinder haben“, sagt Mährle. Das Ehepaar ging in der Folge zu mehreren Ärzten, schöpfte dadurch Mut und Hoffnung. In der 32. Woche stand eine Fruchtwasseruntersuchung an. „Beim Hinfahren habe ich beide Kinder noch gespürt“, erinnert sich Mährle. Doch noch bevor die Untersuchung begann, überbrachte der Arzt die traurige Nachricht: Lotta ist tot.
Zwölf Tage trug Mareike Mährle ihre Zwillinge noch aus. „Die Chance wollte ich dem zweiten Kind geben“, sagt sie. Nach der Geburt kam Michel auf die Frühchenstation. Lotta blieb auf dem Zimmer, damit sich die Eltern und die zweijährige Schwester von ihr verabschieden konnten. „An ihr war alles dran, alles war perfekt“, sagt Mährle. Ein befreundet Pastor segnete sie noch.
Als Erinnerung an Lottas Geburt bleiben der Familie Fotos, die ein Sternenkinderfotograf angefertigt hat. Auch Rebekka Seitzer aus Krumbach (Landkreis Günzburg) ist ehrenamtlich für die Stiftung „dein-sternenkind“aktiv. Fotografen schenken Eltern, die eine stille
haben, Erinnerungsfotos. Die Bilder sind ein „Beweis der Existenz“, sagt Seitzer – das sei für die Trauerarbeit enorm wichtig.
Zwölf Mal hat die 33-Jährige Fototermine angenommen – davon drei in dieser Woche. Seit eineinhalb Jahren ist die Mutter eines vierjährigen Kindes bereits dabei. Die Einsätze, erzählt sie, beginnen immer gleich. Kommt ein Fototermin rein, gibt die Koordinationsstelle diesen an die gemeldeten Fotografen in der Umgebung weiter. Hat Seitzer Zeit und fühlt sich emotional dazu in der Lage, nimmt sie die Aufgabe an. Dann meldet sie sich bei den Eltern oder dem Klinikpersonal und fährt nach Augsburg, Memmingen, Dillingen oder Ulm.
„Man muss sich am Anfang überwinden, weil man nicht weiß, was einen erwartet“, sagt Seitzer. Wenn sie die Zimmertür öffnet, schwappt ihr „eine Mischung aus Trauer und Liebe entgegen“. Es handle sich immerhin um Wunschkinder, die den Weg ins Leben nicht geschafft haben. Bei einem Termin in Augsburg, erzählt Seitzer, hat sie den
jungen Vater mit dem Sohn im Arm vor dem Fenster getroffen. Er wollte ihm die Sonne zeigen. Als die Strahlen durch das Fenster schienen, kullerte ihm eine Träne über die Wange. „Da musste ich schon mit mir kämpfen“, sagt Seitzer. Ein anderes Mal fotografierte sie ein Kind, das in der 13. Woche verstorben war. „Die ganze Hand war etwa so groß wie mein Daumennagel“, berichtet die Fotografin – aber das Kind war komplett. Von diesem Einsatz sei sie mit einer großen Ehrfurcht vor dem Leben zurückgekehrt.
Die Fotografen von „dein-sternenkind“wurden in diesem Jahr bereits zu über 3200 Tot- oder Fehlgeburten gerufen. Von Fehlgeburten spricht man nach Informationen des Universitätsklinikums Augsburg in der achten bis zehnten Schwangerschaftswoche. Sie machen etwa 20 bis 25 Prozent der Fehl- und TotgeGeburt
burten aus, teilt Kliniksprecherin Ines Lehmann mit. Von einer Totgeburt sei in Deutschland ab 500 Gramm oder späterer Schwangerschaftswoche die Rede. Zu den Ursachen gehören häufig Entwicklungsstörungen des Kindes. Auch Chromosomenstörungen und Versorgungsprobleme der Plazenta sind mögliche Ursachen. Früher habe eine nicht diagnostizierte DiabetesErkrankung der Mutter häufig zum „intrauterinen Fruchttod“, wie der medizinische Fachbegriff lautet, geführt. Heute sei in Deutschland ein entsprechendes Screening gesetzlich vorgeschrieben.
Um Betroffenen die Unterstützung zu geben, die ihr beim Verlust ihrer beiden Zwillinge gefehlt habe, hat Anna-Maria Böswald aus Tapfheim (Landkreis Donau-Ries) vergangenes Jahr den Verein Sterneneltern Schwaben gegründet. Sie und ihr Mann haben damals keinerlei Erinnerungen angeboten bekommen. Auch mussten sie ihre Zwillinge ohne Kleidung beerdigen, was Böswald noch heute nahegehe. Deshalb verteilt der Verein, der sich nur
durch Spenden finanziert, beispielsweise kostenlos Kinderkleidung. „Aufklärung und Begleitung ist mir das Wichtigste“, sagt Böswald. In einer Broschüre hat sie alle wichtigen Informationen – von Bestattungsmöglichkeiten und Mutterschutz bis Hebammenbetreuung – zusammengefasst.
Neben der Aufklärung hat sich der Verein die Unterstützung bei der Trauerarbeit zur Aufgabe gemacht: Die Ehrenamtlichen begleiten Angehörige, organisieren Online-Selbsthilfegruppen und verschiedene Veranstaltungen. „Wir wollen dieses Tabuthema brechen“, sagt Böswald.
Seit vergangenem Jahr gibt es auf Initiative des Vereins zwischen Wemding und Rudelstetten einen Erinnerungswald. Dort können Familien in Gedenken an ein verstorbenes Kind einen Obstbaum mit Namensschild pflanzen.
Einer der Bäume trägt den Namen „Lotta“. Für die Familie Mährle ist es ein Ort der Erinnerung geworden – an ihr Kind, das es nicht ins Leben geschafft hat.
„Die ganze Hand war so groß wie mein Daumennagel“