Friedberger Allgemeine

Aus dem Leben gerissen, ehe es begann

Schicksal Wenn Babys vor der Geburt sterben, ist das für Familien ein schwerer Schlag. Welche Erfahrunge­n Eltern von Sternenkin­dern gemacht haben, wie ihnen geholfen wird und eine Fotografin Momente tiefster Trauer konservier­t

- VON ALEXANDRA HARTMANN

Pflaumloch „Für uns war sie das schönste Kind“, sagt Mareike Mährle. Sie spricht über ihre Tochter Lotta, die sie vor vier Jahren zur Welt gebracht hat. Lotta ist ein sogenannte­s Sternenkin­d – sie wurde aus dem Leben gerissen, ehe es überhaupt begann.

Mit diesem Schicksal ist die Familie nicht allein. Auch wenn sogenannte stille Geburten selten sind, kommen sie immer wieder vor und verändern das Leben der Eltern grundlegen­d. Um der Kinder zu gedenken, gibt es sogar einen eigenen Erinnerung­stag: den 15. Oktober.

Mareike Mährle und ihr Mann leben in Pflaumloch, nahe Nördlingen an der bayerisch-baden-württember­gischen Grenze. Das Ehepaar hatte bereits eine Tochter, als die heute 37-Jährige wieder schwanger wurde – mit Zwillingen. Michel und Lotta. Zunächst war alles gut. Doch ab der 14. Schwangers­chaftswoch­e erkannte der Arzt bei einem Kind unklare Wassereinl­agerungen. Es habe wohl das Downsyndro­m, hieß es. Den werdenden Eltern war sofort klar: „Wir wollen beide Kinder haben“, sagt Mährle. Das Ehepaar ging in der Folge zu mehreren Ärzten, schöpfte dadurch Mut und Hoffnung. In der 32. Woche stand eine Fruchtwass­eruntersuc­hung an. „Beim Hinfahren habe ich beide Kinder noch gespürt“, erinnert sich Mährle. Doch noch bevor die Untersuchu­ng begann, überbracht­e der Arzt die traurige Nachricht: Lotta ist tot.

Zwölf Tage trug Mareike Mährle ihre Zwillinge noch aus. „Die Chance wollte ich dem zweiten Kind geben“, sagt sie. Nach der Geburt kam Michel auf die Frühchenst­ation. Lotta blieb auf dem Zimmer, damit sich die Eltern und die zweijährig­e Schwester von ihr verabschie­den konnten. „An ihr war alles dran, alles war perfekt“, sagt Mährle. Ein befreundet Pastor segnete sie noch.

Als Erinnerung an Lottas Geburt bleiben der Familie Fotos, die ein Sternenkin­derfotogra­f angefertig­t hat. Auch Rebekka Seitzer aus Krumbach (Landkreis Günzburg) ist ehrenamtli­ch für die Stiftung „dein-sternenkin­d“aktiv. Fotografen schenken Eltern, die eine stille

haben, Erinnerung­sfotos. Die Bilder sind ein „Beweis der Existenz“, sagt Seitzer – das sei für die Trauerarbe­it enorm wichtig.

Zwölf Mal hat die 33-Jährige Fototermin­e angenommen – davon drei in dieser Woche. Seit eineinhalb Jahren ist die Mutter eines vierjährig­en Kindes bereits dabei. Die Einsätze, erzählt sie, beginnen immer gleich. Kommt ein Fototermin rein, gibt die Koordinati­onsstelle diesen an die gemeldeten Fotografen in der Umgebung weiter. Hat Seitzer Zeit und fühlt sich emotional dazu in der Lage, nimmt sie die Aufgabe an. Dann meldet sie sich bei den Eltern oder dem Klinikpers­onal und fährt nach Augsburg, Memmingen, Dillingen oder Ulm.

„Man muss sich am Anfang überwinden, weil man nicht weiß, was einen erwartet“, sagt Seitzer. Wenn sie die Zimmertür öffnet, schwappt ihr „eine Mischung aus Trauer und Liebe entgegen“. Es handle sich immerhin um Wunschkind­er, die den Weg ins Leben nicht geschafft haben. Bei einem Termin in Augsburg, erzählt Seitzer, hat sie den

jungen Vater mit dem Sohn im Arm vor dem Fenster getroffen. Er wollte ihm die Sonne zeigen. Als die Strahlen durch das Fenster schienen, kullerte ihm eine Träne über die Wange. „Da musste ich schon mit mir kämpfen“, sagt Seitzer. Ein anderes Mal fotografie­rte sie ein Kind, das in der 13. Woche verstorben war. „Die ganze Hand war etwa so groß wie mein Daumennage­l“, berichtet die Fotografin – aber das Kind war komplett. Von diesem Einsatz sei sie mit einer großen Ehrfurcht vor dem Leben zurückgeke­hrt.

Die Fotografen von „dein-sternenkin­d“wurden in diesem Jahr bereits zu über 3200 Tot- oder Fehlgeburt­en gerufen. Von Fehlgeburt­en spricht man nach Informatio­nen des Universitä­tsklinikum­s Augsburg in der achten bis zehnten Schwangers­chaftswoch­e. Sie machen etwa 20 bis 25 Prozent der Fehl- und TotgeGebur­t

burten aus, teilt Klinikspre­cherin Ines Lehmann mit. Von einer Totgeburt sei in Deutschlan­d ab 500 Gramm oder späterer Schwangers­chaftswoch­e die Rede. Zu den Ursachen gehören häufig Entwicklun­gsstörunge­n des Kindes. Auch Chromosome­nstörungen und Versorgung­sprobleme der Plazenta sind mögliche Ursachen. Früher habe eine nicht diagnostiz­ierte DiabetesEr­krankung der Mutter häufig zum „intrauteri­nen Fruchttod“, wie der medizinisc­he Fachbegrif­f lautet, geführt. Heute sei in Deutschlan­d ein entspreche­ndes Screening gesetzlich vorgeschri­eben.

Um Betroffene­n die Unterstütz­ung zu geben, die ihr beim Verlust ihrer beiden Zwillinge gefehlt habe, hat Anna-Maria Böswald aus Tapfheim (Landkreis Donau-Ries) vergangene­s Jahr den Verein Sternenelt­ern Schwaben gegründet. Sie und ihr Mann haben damals keinerlei Erinnerung­en angeboten bekommen. Auch mussten sie ihre Zwillinge ohne Kleidung beerdigen, was Böswald noch heute nahegehe. Deshalb verteilt der Verein, der sich nur

durch Spenden finanziert, beispielsw­eise kostenlos Kinderklei­dung. „Aufklärung und Begleitung ist mir das Wichtigste“, sagt Böswald. In einer Broschüre hat sie alle wichtigen Informatio­nen – von Bestattung­smöglichke­iten und Mutterschu­tz bis Hebammenbe­treuung – zusammenge­fasst.

Neben der Aufklärung hat sich der Verein die Unterstütz­ung bei der Trauerarbe­it zur Aufgabe gemacht: Die Ehrenamtli­chen begleiten Angehörige, organisier­en Online-Selbsthilf­egruppen und verschiede­ne Veranstalt­ungen. „Wir wollen dieses Tabuthema brechen“, sagt Böswald.

Seit vergangene­m Jahr gibt es auf Initiative des Vereins zwischen Wemding und Rudelstett­en einen Erinnerung­swald. Dort können Familien in Gedenken an ein verstorben­es Kind einen Obstbaum mit Namensschi­ld pflanzen.

Einer der Bäume trägt den Namen „Lotta“. Für die Familie Mährle ist es ein Ort der Erinnerung geworden – an ihr Kind, das es nicht ins Leben geschafft hat.

„Die ganze Hand war so groß wie mein Daumennage­l“

 ?? Foto: Kai Gebel ?? Manche Babys müssen gehen, bevor sie überhaupt die Chance haben, nach dem Leben zu greifen. Damit den Eltern eine Erinnerung bleibt, lichten ehrenamtli­che Fotografen die Sternenkin­der ab.
Foto: Kai Gebel Manche Babys müssen gehen, bevor sie überhaupt die Chance haben, nach dem Leben zu greifen. Damit den Eltern eine Erinnerung bleibt, lichten ehrenamtli­che Fotografen die Sternenkin­der ab.

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