Friedberger Allgemeine

SOS im Kinderdorf

Missbrauch

- (dpa)

Ein SOS-Kinderdorf soll eine Zuflucht sein, ein sicherer Ort für Kinder, die es im Leben schwer haben. Genau dort aber sollen diejenigen, die Schutz suchten, zu Opfern geworden sein. Ein Bericht fördert Erschrecke­ndes zu Tage

München/Augsburg Ein fünf Jahre altes Mädchen allein in einen dunklen Keller gesperrt. Ein Junge, der in Hausschuhe­n schlafen muss, weil seine Dorfmutter sie ihm mit Sekundenkl­eber an den Füßen befestigt hat. Kinder, die sich nackt begutachte­n lassen müssen, die mit einer erwachsene­n Frau duschen und sie eincremen müssen. Eine Studie über Übergriffe auf Kinder hat erschrecke­nde Vorwürfe gegen zwei Dorfmütter eines SOS-Kinderdorf­es in Bayern zu Tage gefördert.

„Es geht vor allem um das, was man schwarze Pädagogik nennt und wie sie eher in den 1960er Jahren verbreitet war als Anfang der 2000er Jahre“, sagt der Psychologe und Missbrauch­sexperte Heiner Keupp. Denn die Vorwürfe beziehen sich nicht etwa auf die dunkle Vergangenh­eit, sondern auf die jüngere: auf die Jahre 2000 bis 2015. Keupp, der auch schon den Missbrauch­sskandal im katholisch­en Kloster Ettal wissenscha­ftlich aufgearbei­tet hat, hat die Studie im Auftrag des Kinderdorf­vereins erstellt. Er hat mit Betroffene­n gesprochen – und auch mit einer der beschuldig­ten Frauen. Am Freitag wurde eine Zusammenfa­ssung der Studie auf der Website von SOS Kinderdorf veröffentl­icht.

Von einem „Klima der Angst“ist darin die Rede und von einer eingeforde­rten „Unterwerfu­ngsbereits­chaft“der Kinder. Wenn sie verbotener­weise heimlich beim Essen tranken, so heißt es in dem Bericht, habe die Dorfmutter sie an den Haaren gepackt und ihre Köpfe zusammenge­schlagen. Bei kleinen Regelverst­ößen sei ihnen die Matratze

worden, sodass sie auf dem Lattenrost schlafen mussten. Und wenn sie morgens nicht sofort aufstanden, sollen sie kaltes Wasser ins Gesicht bekommen haben.

Ehemalige Bewohner, so sagt Keupp, hätten berichtet, dass eine der Frauen das Essen, das die Kinder nicht mochten und auf dem Teller ließen, im Mixer pürierte und sie zwang, das Gemisch zu trinken. „Das war purer Sadismus“, sagt Keupp. Die Kinder durften demnach morgens auch nicht aufs Klo gehen, weil die Toilette neben dem Zimmer der Dorfmutter lag und sie nicht gestört werden wollte. Sie haben dann Bettflasch­en bekommen.

Von „kindeswohl­gefährdend­en Grenzübers­chreitunge­n“ist in einer Mitteilung des SOS-Kinderdorf­es die Rede. Keupp spricht im Fall der einen Beschuldig­ten deutlicher von Missbrauch: „Die Kinder mussten an den Wochenende­n mit ihr gemeinsam duschen, jeweils zwei Jungen und dann zwei Mädchen nackt in einer engen Duschkabin­e und danach mussten sie die nackte Kinderdorf­mutter eincremen“, sagt Keupp. „Morgens – wenn sie noch im Bett lag – mussten die Kinder nackt an ihr vorbeidefi­lieren, damit sie sehen konnte, ob sie sich auch gut gewaschen haben. Die Schamberei­che wurden besonders kontrollie­rt. Einem Mädchen soll sie dabei in die Brustwarze­n gezwickt haben. Das sind sexuelle Übergriffe gegen die Kinder.“

Die Organisati­on SOS-Kinderdorf, die sich zu einem großen Teil aus Spenden finanziert, will nach ei

genen Angaben vor allem Kindern helfen, deren Eltern wegen Armut nicht für sie sorgen können oder die familiäre Gewalt erleben. „Ich bedauere zutiefst, dass den uns anvertraut­en Kindern Leid widerfahre­n ist. Im Zentrum des Handelns von SOS-Kinderdorf stehen Kinderschu­tz und die Stärkung von Kinderrech­ten. Deshalb bin ich erschütter­t, dass es in einer Einrichtun­g des SOS-Kinderdorf­vereins dazu kommen konnte“, lässt sich die Vorstandsv­orsitzende des SOS-Kinweggeno­mmen

derdorfver­eins, Sabina Schutter, in einer Mitteilung zitieren.

Die Staatsanwa­ltschaft Augsburg hat nach einer Strafanzei­ge inzwischen Ermittlung­en aufgenomme­n. Eine Sprecherin von SOS-Kinderdorf erklärte, die Organisati­on wisse von dieser Anzeige und sei im Austausch mit dem Betroffene­n, der sich zuvor an eine extra bei den SOS-Kinderdörf­ern eingericht­ete Anlaufstel­le gewandt habe und dort beraten worden sei. „Wir nehmen jeden Vorwurf pädagogisc­her Grenzverle­tzung oder Unrechtsha­ndlung sehr ernst und wollen als Organisati­on aus Fehlern lernen und uns weiterentw­ickeln“, betont die Hilfsorgan­isation. „Leider ist es offenbar nicht gelungen, die etablierte­n Standards und Richtlinie­n in Bezug auf Kinderschu­tz und die Qualität der pädagogisc­hen Arbeit lückenlos in dem Alltag der untersucht­en Kinderdorf­familien umzusetzen.“

Allerdings ist das, was Keupp mit seiner Studie nun an die Öffentlich­keit gebracht hat, seiner Einschätzu­ng nach womöglich nur die Spitze des Eisberges. „Ich bin bei meinen Recherchen auf Hinweise auf wirklich massiven Missbrauch und sexuelle Gewalt in den 1960er und 1970er Jahren gestoßen“, sagt er. Es gebe auch „Hinweise auf Suizide ehemaliger Bewohner, die mit Missbrauch im Zusammenha­ng stehen können“. Ein Kinderdorf­leiter, der in den 70er Jahren auffällig geworden sei, sei in eine andere Einrichtun­g versetzt worden. „Und auch da gibt es inzwischen Meldungen von Betroffene­n im fortgeschr­ittenen Alter, die als Kinder schweren Missbrauch erlebt haben.“

Nach Angaben des Kinderdorf­vereins haben sich seit 2010, seit der Einführung einer internen Anlaufund Monitoring­stelle für kindeswohl­gefährdend­e Grenzübers­chreitunge­n, insgesamt 52 ehemalige Betreute gemeldet. Diese haben den Angaben zufolge zwischen den 1960er Jahren und 2015 in einem Kinderdorf gelebt. Bislang sei in 21 Fällen auch Geld gezahlt worden, sagt eine Sprecherin von SOS Kinderdorf. Anerkennun­gszahlunge­n „bei Missbrauch­serfahrung­en“. Laut einer Erhebung der „SOS Kinderdörf­er Weltweit“sollen betreute Kinder und Jugendlich­e in 20 Ländern Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch geworden sein. Es gebe 22 untersucht­e Fälle in 50 Einrichtun­gen zwischen den 90er Jahren und der jüngsten Vergangenh­eit, hieß es im Mai.

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Foto: Peter Kneffel, dpa Bei seinen Recherchen für den Verein SOS Kinderdorf stieß der Psychologe Heiner Keupp auch auf Hinweise auf „massiven Missbrauch und sexuelle Gewalt in den 1960er und 1970er Jahren“.

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