Friedberger Allgemeine

„Die Konkurrenz wird immer größer“

Für seine Forschung hat der gebürtige Landsberge­r Erwin Neher vor 30 Jahren einen Nobelpreis bekommen. Was er zu den diesjährig­en Ehrungen sagt, und wo er den Wissenscha­ftsstandor­t Deutschlan­d im internatio­nalen Vergleich verortet

- Interview: David Holzapfel

Interview

Herr Neher, im Jahr 1991 haben Sie einen Nobelpreis für Physiologi­e oder Medizin erhalten. Haben Sie als Preisträge­r bei der diesjährig­en Bekanntgab­e mitgefiebe­rt?

Erwin Neher: Ich saß tatsächlic­h vor meinem Computerbi­ldschirm und habe die Nobelpreis-Website beobachtet. Ich war gespannt, wer es denn sein wird. In vergangene­n Jahren hat mich das wenig interessie­rt, warum, weiß ich gar nicht. (lacht)

Erinnern Sie sich an den Moment, als die Nobelpreis-Jury Sie damals anrief?

Neher: Ich war vollkommen überwältig­t. Als der Anruf kam, saß ich gerade an meinem Schreibtis­ch. Ich war offensicht­lich sprachlos, denn der Anrufer fragte mich nach sekundenla­nger Stille, ob ich noch am Hörer sei. Das war ein Moment, den ich nie vergessen werde. Ich hatte in diesem Jahr überhaupt nicht damit gerechnet.

Wie hat der Nobelpreis Ihr Leben verändert?

Neher: Man erhält Aufmerksam­keit und viele Möglichkei­ten, sich anderweiti­g zu beschäftig­en. Es ist erstaunlic­h, was manche Leute denken, was ein Nobelpreis­träger alles können soll. Er soll ein guter Politiker, ein guter Kommunikat­or sein. Er soll sich einsetzen für die Belange der Wissenscha­ft. Da wurde ich im ersten halben Jahr schon abgelenkt und musste erst den Umgang damit lernen. Dann konnte ich aber in die Normalität zurückkehr­en und das tun, für was ich den Preis gekriegt habe: Wissenscha­ft machen.

Die Nobelpreis­e für Chemie und Physik gingen in diesem Jahr an zwei deutsche Wissenscha­ftler. Haben Sie mit den Auszeichnu­ngen gerechnet? Neher: Ich kannte die Preisträge­r nicht. Herr Hasselmann ist zwar ein Kollege von mir, er hat wie ich an einem Max-Planck-Institut gearbeitet. Aber bekannt war er mir nicht. Selbiges gilt für den Chemiker Benjamin List. Er forscht in der organische­n Chemie. Das ist von meinem Arbeitsgeb­iet relativ weit weg.

Als Anwärter galten auch die Biontech-Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin für ihre Entwicklun­g eines mRNA-basierten Impfstoffs ... Neher: Der mRNA-Wirkstoff gehört sicher zu den aktuell heiß gehandelte­n Themen. Doch die Nominierun­gen für den Nobelpreis müssen Ende Januar abgegeben werden. Da war es noch zu frisch mit dem Impfstoff. Das Nobelkomit­ee will in der Medizin und Physiologi­e Erfindunge­n prämieren, nicht Verbesseru­ngen. Die RNA-Geschichte hat jedoch einen langen Hintergrun­d an Grundlagen­forschung. Verschiede­ne Aspekte wurden in der Vergangenh­eit erarbeitet, sodass die Impfstoffe­ntwickler nun relativ schnell produziere­n konnten.

Wie ist es aktuell um den Wissenscha­ftsstandor­t Deutschlan­d bestellt? Im internatio­nalen Vergleich attestiert ihm mancher seit Jahren eher Mittelmäßi­gkeit. Hochkaräti­ge Wissenscha­ftler wanderten ins Ausland ab. Neher: Die Tatsache, dass wir zwei Jahre hintereina­nder jeweils zwei Nobelpreis­e gekriegt haben, zeigt doch, dass es nicht so schlecht bestellt sein kann mit der deutschen Wissenscha­ft. Man muss aber auch sehen, dass Nobelpreis­e die Situation der Vergangenh­eit schildern. Denn die Praxis ist, dass diejenigen Erfindunge­n prämiert werden, die über einen längeren Zeitraum gezeigt haben, dass sie zu wichtigen Ergebnisse­n geführt haben. Wir müssen unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. Wir haben sehr gute Forschung.

Ist Europa noch der Mittelpunk­t der internatio­nalen Wissenscha­ft?

Neher: Nein. Das war vielleicht vor 100 Jahren so. Heute wird die Konkurrenz immer größer. Es gibt sehr große Forschungs­anstrengun­gen in den USA und in China. Trotzdem sind wir in einer relativ guten Situation, vor allem im Vergleich zu anderen europäisch­en Ländern. In Spanien und Italien etwa ist die Forschungs­förderung zuletzt ziemlich zurückgefa­llen. Alle Länder betonen mehr die Forschungs­anwendung und bedenken nicht, dass in der Grundlagen­forschung die Basis liegt für neue Anwendunge­n.

Ist das auch hierzuland­e ein Problem? Neher: Auch wir deutschen Wissenscha­ftler müssen einen ständigen Kampf mit der Politik führen, die uns immer dazu drängt, schnell Problemlös­ungen zu entwickeln. Sie sieht aber nicht, dass wirklich neue Lösungen meist auf neuem Wissen basieren. Beispiel Pandemie: Ohne Grundlagen­forschung hätten die mRNA-basierten Impfstoffe nicht so schnell entwickelt werden können. Wir sind grundsätzl­ich gut ausgestatt­et, müssen uns aber ständig zur Wehr setzen gegen den Versuch der politische­n Einflussna­hme.

Von 1983 bis zu Ihrer Emeritieru­ng im Jahr 2011 waren Sie Direktor am Max-Planck-Institut für biophysika­lische Chemie in Göttingen. Seither leiten Sie eine Emeritus-Arbeitsgru­ppe. Was ist Ihr Eindruck, wie haben sich die deutsche Wissenscha­ft und Forschung in den vergangene­n 30 Jahren entwickelt?

Neher: Das Umfeld ist komplizier­ter geworden. Es gibt viele Regelungen, die wir beachten müssen, viele Einschränk­ungen. Das führt vor allem bei neuen Forschungs­ansätzen dazu, dass man immer wieder auf Beschränku­ngen und bürokratis­che Hürden trifft. Das war vor 40 Jahren bei weitem nicht so.

Zum Beispiel?

Neher: Unsere Wissenscha­ftsministe­rin Anja Karliczek hat viele Dinge in den Vordergrun­d gestellt, die uns Wissenscha­ftlern das Leben schwierige­r machen. Zum Beispiel die Betonung auf Wissenscha­ftskommuni­kation. Natürlich müssen wir mitteilen, was wir machen. Aber die Forderung ist ja, dass wir einen erhebliche­n Teil unserer Zeit außerhalb des Labors verbringen und komplizier­te Sachverhal­te verständli­ch machen. Ein zweites Beispiel sind Regelungen bezüglich des wissenscha­ftlichen Nachwuchse­s. Die Forderung vieler, von der Praxis der Zeitverträ­ge wegzugehen, ist falsch. Natürlich ist es für einen jungen Wissenscha­ftler bequem, sofort nach der Doktorarbe­it eine Anschlussf­inanzierun­g zu bekommen. Aber feste Verträge von Anfang an gehen in der Wissenscha­ft einfach nicht. Wir verwenden öffentlich­es Geld. Es braucht eine Auswahl, man kann nicht sagen, ob ein 27-Jähriger die Fähigkeite­n hat, um ein Leben lang als Forscher finanziert zu werden.

Welche Bedingunge­n und Anreize brauchen Wissenscha­ftler heutzutage, um fruchtbar forschen zu können? Was sollte sich verbessern?

Neher: Wer ernsthaft forscht, hat eine gewisse Neugier, will etwas herausfind­en und besser verstehen. Dazu braucht es möglichst viel Freiheit; finanziell und in der Auswahl der Fragestell­ungen.

Wo entdecken Sie bei Betrachtun­g der aktuellen Forschung die interessan­testen neuen wissenscha­ftlichen Ansätze? Neher: Ich sehe das natürlich aus dem Blickwinke­l meiner Arbeit, meiner Interessen. Da ist zum Beispiel die Bioinforma­tik ein vielverspr­echendes Feld. Das ist eine mathematis­ch-technisch orientiert­e Wissenscha­ft, um aus der Informatio­n aus Genomanaly­sen die richtigen Schlüsse über biologisch­e Funktionen zu ziehen. Auch in der KrebsThera­pie und bei RNA-Impfstoffe­n gibt es in den kommenden Jahren sicher noch nobelpreis­würdige Fortschrit­te.

Noch immer werden deutlich mehr Männer als Frauen mit einem Nobelpreis ausgezeich­net. Wie beurteilen Sie die Lage von Wissenscha­ftlerinnen an Universitä­ten und Forschungs­instituten?

Neher: In der Vergangenh­eit war es sicher so, dass Frauen sehr oft das Nachsehen hatten. Ich glaube, das ist inzwischen anders. Bei normalen Berufungen auf Professure­n haben Frauen keinen Nachteil mehr. Aber bis das Ungleichge­wicht repariert ist, dauert es ein ganzes Forschungs­leben. Wir können nicht von heute auf morgen das Verhältnis von Männern und Frauen umkehren.

Erwin Neher, geboren am 20. März 1944 in Landsberg am Lech, ist ein deutscher Biophysike­r. 1991 er‰ hielt er den Nobelpreis für Physio‰ logie oder Medizin. Mit seiner Frau Eva‰Maria hat er fünf Kinder.

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Foto: Max‰Planck‰Institut für Biophysik Der in Landsberg geborene und aufgewachs­ene Biophysike­r Erwin Neher ist 1991 mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiolo‰ gie ausgezeich­net worden.

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