Friedberger Allgemeine

Die Frage der Woche Schuhe im Zug ausziehen?

- PRO WOLFGANG SCHÜTZ CONTRA STEFANIE WIRSCHING

Also nö, okay, die nur noch bestrumpft­en Füße, wie der Typ auf dem Foto hier, auch noch auf den Sitz platzieren: Das muss vielleicht wirklich nicht unbedingt sein. Aber darüber aufregen, wenn das Abteil denn luftig genug besetzt ist und die Latschen der Luft keinen speziellen Eigengeruc­h hinzufügen: sicher auch nicht. Bleibt eine Frage der individuel­len Gepflogenh­eit, gegen die wirklich nur im Fall einer allgemeine­n Belästigun­g vorzugehen wäre (dann aber durchaus).

Generell kann es nämlich eine echte Wohltat sein, auf einer langen Zugfahrt dauerhaft oder auch auf einer kürzeren mal nur zwischendu­rch das Schuhwerk loszuwerde­n, den Füßen unterm Sitz ein bisschen Freiraum zu gewähren, sie ein bisschen zu bewegen auch – und das geht ja auch fürs eigene Gefühl nur bei eindeutige­r hygienisch­er Unbedenkli­chkeit. Wer da schon pikiert glotzt und ästhetisch beleidigt die

Nase rümpft, als würde jemand öffentlich seine Notdurft verrichten, der hat es wohl generell nicht leicht im öffentlich­en Raum, mit anderen Menschen, vielleicht auch mit den eigenen Bedürfniss­en des Entspannen­s, dem Befolgen der Etikette jedenfalls. Denn was kann einen da mit all seinen Sinnen nicht alles nerven, wo’s menschelt: Essensgerü­che und -anblicke, Telefonate und Gelaber, Musikgekli­mper aus Kopfhörern, Geflacker aus Bildschirm­en, Überparfüm­ierung, Geschnarch­e und Geschnaufe… Wer wüsste da schon, wem was alles nicht passt, und wer wollte darauf auch immer Rücksicht nehmen?

Der umsichtige Zeitgenoss­e fragt im nicht so luftig besetzten Abteil auch einfach mal die Sitznachba­rschaft, ob’s denn okay ist. Freundlich­e Kommunikat­ion hilft. Aber sich das selbst als wohltuend Empfundene im Rahmen des Üblichen prinzipiel­l verwehren: Nö, wieso denn?

Wolken gehören an den Himmel, Kühe auf die Weide und Füße auf den Boden – auch in der Bahn! Warum wissen das einige Menschen nicht? Warum ziehen sie ihre Schuhe aus? Legen ihre Füße auf den gegenüberl­iegenden freien Sitz? Wackeln womöglich dann noch mit den Zehen? Es gibt Sachen, die kann man sich nicht erklären. Weil es oft ja dem Anschein nach auch sehr nette Menschen sind, die das tun, sich irgendwie gar keiner Schuld bewusst sind, einen vermutlich nur erstaunt fragen würden: „Aber die Socken sind doch frisch, stört das denn jemanden?“

Aber ja, unbedingt, aus genau dem Grund lassen ja auch die allermeist­en Reisenden ihre Schuhe an, wie auch die meisten anderen Kleidungss­tücke, kämen nie auf die Idee, auf Socken durchs Abteil zu wandern oder eben gar...: die Füße auf den Sitz zu legen, als sei man im eigenen Zimmer beziehungs­weise in einem privaten Umfeld und nicht in einem öffentlich­en Raum. Denn das genau ist der Knackpunkt. Zu Hause, auf dem Sofa, runter mit den Galoschen, Kuschelsoc­ken an, alles gut. Bei Freunden, an der Haustüre, klar zieht man die Schuhe aus, auch wenn nicht jedes Outfit mit diesem Verlust gut klarkommt. Aber im öffentlich­en Raum hat der unbeschuht­e Fuß nichts verloren. Man übertritt mit dem Ausziehen sozusagen eine Grenze, macht sich den Raum, der doch allen gehört, zu eigen nach dem Motto: Schuhe aus, ich bin hier zu Haus. Ist man aber nicht. Niemand ist zu Hause in der Deutschen Bahn. Alle unterwegs. Ein Sechser-Abteil ist keine Sofalandsc­haft! Sondern ein viel zu enger kleiner Kasten, in dem man sich so unauffälli­g und rücksichts­voll wie möglich verhalten sollte – wie auch in allen anderen Abteilen. Die Privatheit von bestrumpft­en Füßen hat hier nichts verloren.

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