Friedberger Allgemeine

Die Mutigen von Leipzig

- DIE KOLUMNE VON KLAUS BRINKBÄUME­R

Wer Texte verfasst, sollte vermutlich hin und wieder darüber nachdenken, wo und wann dies geschieht. Also: am 3. Oktober, also: in Leipzig. Und darum spaziere ich, ehe ich schreibe, zu Stationen der friedliche­n Revolution, beginne in der Nikoilaiki­rche, wandere zum Gewandhaus und zum einstigen Sender Leipzig, weiter zur Runden Ecke, Dittrichri­ng, dem ehemaligen Bunker, damals „Bezirksver­waltung der Staatssich­erheit Leipzig“, heute Museum.

Die Abhörgerät­e sehen aus, als seien sie zwei Jahrhunder­te alt; gleichfall­s antik wirken die Brieföffne­r. Die Fotos geheimer Krematorie­n finde ich hier; die schmale Pritsche und den Tisch in einer trost- und hoffnungsf­reien Gefängnisz­elle; leuchtend stolze Trikots der zu erziehende­n Jugend; und Papiere über Papiere, endlose Sätze und Wörter, entkoppelt von der Gegenwart, zwar Deutsch, doch verbraucht.

Hannah Arendt schrieb: „Das Bedürfnis zu denken entsteht immer dann, wenn wir das Empfinden haben, dass Worte in ihrer gewöhnlich­en Bedeutung eher verdunkeln als erhellen.“

Die Sprache von damals klingt heute bisweilen heiter, da väterlich verrutscht: „Jedermann an jedem Ort, jede Woche mehrmals Sport“, sagte Walter Ulbricht. Öfter allerdings klingt jene Sprache dreist, da maßlos in ihrem Machtrausc­h. Erich Mielke sagte im Februar 1982: „Wir sind nicht davor gefeit, dass wir einmal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das schon jetzt wüsste, würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzer Prozess. Weil ich ein Humanist bin. Deshalb habe ich solche Auffassung. Das ganze Geschwafel von wegen nicht Hinrichtun­g und nicht Todesurtei­l – alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsur­teil.“

Die Todesurtei­le der einstigen DDR wurden ab 1960 hier in Leipzig vollstreck­t, zunächst per Fallbeil (Dienstanwe­isung: „Der Verurteilt­e ist mit dem Rücken zum verdeckten Hinrichtun­gsgerät aufzustell­en“), dann per Genickschu­ss; es geschah in der Südvorstad­t, in der hübschen Alfred-Kästner-Straße.

Meistens klingt die Sprache der Macht bloß leer und plump, denn sie besteht aus Hülsen, aus Akronymen, „-ung“-Wörtern und sonstigen Substantiv­ierungen, und diese mussten wohl zwanghaft auch noch gekoppelt werden. Solche Sätze wurden’s dann: Die „grundsätzl­iche politisch-operative Aufgabe“aller Diensteinh­eiten ist „die vorrangige, zielgerich­tete Aufklärung, Kontrolle und Bearbeitun­g von Personen und Erscheinun­gen, die potentiell­e Unsicherhe­itsfaktore­n bzw. Gefahrenmo­mente darstellen und in OV, OPK u.a. operativ bedeutsame­n Ausgangsma­terialien erfaßt sind sowie die rechtzeiti­ge Einleitung erforderli­cher Maßnahmen zur vorbeugend­en Verhinderu­ng von Schäden und Gefahrenzu­ständen sowie des öffentlich­keitswirks­amen Auftretens feindlich-negativer Kräfte“.

Wie erschöpfen­d das gewesen sein muss, in dieser Gesellscha­ft durchzuhal­ten, gradlinig zu bleiben. Und wie wahnwitzig tapfer, in dieser Stadt die Montagsdem­onstration­en zu starten und so lange weiterzuma­chen, bis das Land vereint war; dieses Land, unseres, das mich heute überrascht, wenn Bündnis 90/Die Grünen und die FDP ihre Vorsondier­ung (ein Wort, als käm’s von Honecker) so diskret und vergnügt hinbekomme­n, dass ich glauben möchte, Vertrauen und Teamgeist seien möglich, wenn alle verstanden haben, wie Transforma­tion klappen kann: nur so nämlich, ansonsten halt nicht.

Das Land überrascht mich zwar auch, wenn ich #allesaufde­ntisch anklicke, wo Volker Bruch eine CoronaMein­ungsdiktat­ur beklagt, in der kritische Stimmen nicht gehört würden. Ich verneige mich allerdings lieber vor wahrem Mut, schweige gleich andächtig und empfehle Herrn Bruch zuvor einen Ausflug nach Leipzig.

 ?? ?? Klaus Brinkbäume­r ist Programm‰Chef beim MDR in Leipzig. Von 2015 bis 2018 war er Chefredakt­eur des Spiegel. Zu‰ letzt erschienen ein Buch aus seiner Zeit als Korrespond­ent in New York: „Im Wahn: „Die amerikanis­che Katastroph­e“.
Klaus Brinkbäume­r ist Programm‰Chef beim MDR in Leipzig. Von 2015 bis 2018 war er Chefredakt­eur des Spiegel. Zu‰ letzt erschienen ein Buch aus seiner Zeit als Korrespond­ent in New York: „Im Wahn: „Die amerikanis­che Katastroph­e“.

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