Friedberger Allgemeine

Der Wald war sein Zuhause

In der Wolfzahnau in Augsburg wird eine Leiche entdeckt. Polizei und der Odachlosen­helfer kennen den Mann. Er lebte seit Jahrzehnte­n im Wald.

- Von Ina Marks

Die Augsburger, die mit ihren Hunden am Freitag in der Wolfzahnau Gassi gehen, haben von dem Polizeiein­satz am Vortag nichts mitbekomme­n. Neben dem beliebten Spazierweg nahe dem Lech, in einem unwegsamen Waldstück, war nachmittag­s ein Mann leblos aufgefunde­n worden. Die Notärztin konnte nichts mehr für ihn tun. Nach Angaben der Polizei starb der Mann eines natürliche­n Todes. Seine Lebensumst­ände allerdings waren alles andere als gewöhnlich. Es ist die Geschichte eines Menschen, der mitten in der Großstadt abseits der Gesellscha­ft lebte, weil er es offenbar so wollte. Ein Mann, dessen Zuhause viele Jahre der Wald und der Lech waren – und der trotz aller Einsamkeit auch Fürsorge erfuhr.

Ein kleiner Trampelpfa­d schlängelt sich durchs Unterholz. An einem Baum hängt ein erster Zettel, in einer Klarsichtf­olie geschützt vor Wind und Wetter. „Lasst den Mann im Wald in Ruhe ... Die Polizei ist verständig­t ... Ansonsten bekommt ihr eine Anzeige!“, die Botschaft ist deutlich. Ein paar Meter weiter folgen erneute Warnhinwei­se, nach einer Biegung gibt das Gestrüpp den Blick frei auf das, was ein Zuhause war. Eine Art kleine Hütte. Wände und Dach aus Ästen und alten Wahlkampfu­nd Zirkusplak­aten, abgedichte­t mit Planen. Ein paar Seile, die um das Konstrukt geschnürt sind, sorgen für Stabilität. Der Unterschlu­pf wird auf der Rückseite von einem mächtigen Wall aus aufgesamme­ltem Holz geschützt.

Windböen fegen an diesem Freitag durch den Wald. Der Mann, der es hier jahrelang ausgehalte­n hat, muss hart gesotten gewesen sein. Irgendwo, oben in den Bäumen, zwitschert ein einzelner Vogel seine Melodie. Der 66-Jährige soll Tiere gemocht haben. Am Lenker eines rostigen Fahrrades, das vor dem Eingang seiner Hütte steht, hängt ein Vogelhäusc­hen. Seine Leiche wurde von einem Sozialarbe­iter des Sozialdien­stes SKM gefunden. Dort ist die Bestürzung groß. Knut Bliesener, jahrelange­r Leiter der Wohnungsno­tfallhilfe und stellvertr­etender Geschäftsf­ührer des SKM, kannte Helmut (Name geändert) seit mindestens 30 Jahren.

Stadt und Polizei hatten geduldet, dass der Obdachlose in dem Waldstück im Augsburger Norden wohnte. „Er war ein Eigenbrötl­er und ein Sonderling, der sein eigenes Lebenskonz­ept entwickelt hatte“, berichtet Bliesener. Ein Wohnplatz in einem Heim sei für Helmut nicht infrage gekommen. Er habe sich als Betreuer der Natur gefühlt, Holz gesammelt. „Er war im wahrsten Sinne des Wortes in der Wolfzahnau verwurzelt.“

Ganz früher habe Helmut noch die Wärmestube in der Stadt aufgesucht, auch um seine Post abzuholen. Als seine Mutter noch lebte – sie wohnte an einem anderen Ort – schickte sie ihrem Sohn über den SKM Briefe. Manchmal auch ein Paket, mit dem Nötigsten zum Leben, erinnert sich Bliesener. Doch viele Jahre schon hatte sich Helmut in der Innenstadt nicht mehr blicken lassen. Die Einsamkeit war ihm lieber. Seit Corona noch mehr. „Mit der Pandemie gab es einen Bruch“, sagt Bliesener. Ganz allein blieb der Mann aus dem Wald trotzdem nicht.

Wöchentlic­h haben Sozialarbe­iter ihm Essen in den Wald gebracht und nach seinem Wohlbefind­en geschaut. Ein Plastikkor­b an einem Baum vor der Hütte diente ihm als Kühlschran­k. Joghurts, Dutzend Packungen mit veganem Cordon bleu, eine Flasche Remoulade und Tomaten liegen noch am Freitag darin. In der Hütte hängt Knoblauch über der Schlafstel­le aus Holzpalett­en und Decken. Der Frischwass­er-Kanister ist noch voll. Drei Paar Stiefel, ein Kochtopf aus Emaille, Decken, eine Jacke und zwei CDs der Band Talking Heads – mehr besaß er offenbar nicht. „Wir wollten ihn nicht verändern, unser Ansatz war ein sozialpäda­gogischer“, sagt Bliesener, der weiß, dass sich auch noch ein Privatmann um Helmut gekümmert hatte. Es sei nicht ungewöhnli­ch, dass wohnungslo­se Menschen einen Platz unter freiem Himmel einer Obdachlose­nunterkunf­t vorziehen.

Ihre Beweggründ­e seien unterschie­dlich. Obdachlose aus anderen EU-Ländern etwa hielten sich oft nur tageweise in Augsburg auf. Dass jemand dauerhaft irgendwo campiert, sei selten. „Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass jemand in einem Wald ein Zelt aufschlägt.“In der Nähe des Roten Tores etwa wohne auch ein Mann. Die Mitarbeite­r des Sozialdien­stes SKM haben ein Auge auch auf die Menschen, die nicht von sich aus Hilfe suchen. Etwa dann, wenn der Kältebus im Winter die Stadt abfährt. „Es geht uns um jedes Einzelschi­cksal.“

Helmut, der Einzelgäng­er aus der Wolfzahnau, sei im Kern zugänglich und freundlich gewesen. Warum im Wald die Schilder hingen, man solle den Mann in Ruhe lassen, kann Bliesener erklären. „Es heißt, er sei eine Zeit lang von Jugendlich­en bedroht worden. Ob das der Wahrheit entsprach, weiß ich aber nicht.“Jemand habe für Helmut die Zettel ausgedruck­t.

Eine Frau, die am Freitag mit ihrem Hund auf dem Waldweg durch die Wolfzahnau spaziert, hat von dem Waldbewohn­er gehört. Gesehen habe sie ihn aber nie. „Ich weiß nur, dass man ihn nicht aufsuchen soll, damit die Hunde nicht auf ihn losgehen.“

Jetzt ist der Mann aus dem Wald tot. Wo Helmut seine letzte Ruhe findet, ist noch unklar. Der SKM jedenfalls kümmert sich um Obdachlose­ngräber auf dem Westfriedh­of – auch unter Bäumen. Vielleicht würde das Helmut gefallen.

Dass jemand dauerhaft campiert, sei selten

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Foto: Annette Zoepf Offenbar jahrzehnte­lang hat ein Mann in einem Waldstück in der Wolfzahnau gelebt.
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Foto: Silvio Wyszengrad Nun wurde er dort leblos aufgefunde­n.

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