Ziemlich „unschweizerisch“
Die Schweizerische Volkspartei (SVP) wird am Sonntag die Wahl gewinnen – Danach wird sie an ihren Ansprüchen scheitern
ST. GALLEN - 20 Prozent Ausländeranteil und 50 Prozent Exportanteil hat die Schweiz. Das ist ziemlich gut, sogar besser als Deutschland. Trotzdem gilt die Schweiz als ausländerfeindlich und abschottungswütig. Es ist, wenn man in der Schweiz lebt, zum Verzweifeln. Denn es stimmt so nicht: Die Ausländer sind überwiegend gut integriert, sprechen oft die Landessprachen. Die Wirtschaft ist international. Die Menschen sind heimatverwurzelt und doch oft weit gereist. Auch gab es keine brennenden Häuser, die zu Asylunterkünften umgerüstet wurden. Bezogen auf die Bevölkerung von rund acht Millionen nimmt die Schweiz viele Flüchtlinge auf. Bis 2014 waren es mehr als in Deutschland. Das wird sich angesichts der Entwicklung zwar ändern. Aber die Schweiz erfüllt ihre Verantwortung einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik besser als viele Länder der Europäischen Union (EU).
„Gegen die in Bern“
Dennoch hat die Schweiz dieses Abschottungsimage. Das verdankt das Land der stärksten politischen Kraft, der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Seit Volkstribun und Milliardär Christoph Blocher die alte Bauernpartei gekapert hat, ist sie mit wenigen Ausrutschern ständig auf dem Vormarsch „gegen die in Bern“. Sie stellt die Schweiz als freie, unabhängige, neutrale Willensnation dar. Dazwischen gibt es nichts für sie, alle anderen sind im Grunde linke Vaterlandsverräter. Die SVP wird laut Prognosen mit knapp 30 Prozent der Stimmen die eidgenössischen Wahlen gewinnen.
Die SVP wirbt damit, dass sie die einzige Partei sei, die garantiere, dass die Zuwanderung begrenzt, Missbräuche im Asylwesen beseitigt, kriminelle Ausländer rausgeschafft und ein Anschluss an die EU verhindert wird. Bis auf die Begrenzung der Zuwanderung wollen das auch die anderen Parteien, aber die SVP hat grenzt sich mit ihrer scharfen Rhetorik erfolgreich ab – vor allem mit dem Stopp der „Masseneinwanderung“, die gegen die Personenfreizügigkeit in der EU gerichtet ist. Dies als ein kleines Land mitten in Europa.
Ziel rechter Angriffe
Wie passt das zusammen? Ganz einfach: Gar nicht! Es funktioniert für die SVP, weil sie in der Schweizer Regierung, dem siebenköpfigen Bundesrat, nur mit einem, zudem farblosen Politiker vertreten ist. Deshalb wäre es sogar gut, wenn die SVP einen zweiten Bundesrat bekäme, dem man am besten die Verantwortung für das Dossier Asyl und Europäische Verträge übergäbe. Der Wahlsieger würde dann schnell an seinen eigenen Ansprüchen scheitern. Die aktuell zuständige Ministerin Simonetta Sommaruga ist bis dato das beliebteste Ziel der rechten Angriffe, zumal sie der sozialdemokratischen SP angehört, also eine „Linke“ist.
Schaut man ins Land, dann sieht die Lage ganz anders aus. In meiner Gemeinde gibt es ein Durchgangszentrum für Asylanten. Da es gut organisiert ist und auch klare Ansagen und Prozesse vorliegen, funktioniert es. Im Kanton St. Gallen arbeiten Tausende von Grenzgängern aus Österreich und Deutschland, weil die Spezialisten in der Schweiz nicht vorhanden sind. Selbst SVP-nahe Unternehmer raufen sich die Haare über die Wirtschaftsfeindlichkeit der Partei. Auf Bundesebene baut die Eidgenossenschaft den neuen Gotthard-Tunnel. Dieser gewaltige, 50 Kilometer lange Tunnel ist Teil der Neat, der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale, die man wirklich nicht für die acht Millionen Schweizer bräuchte. Der Tunnel ist Teil des Transitabkommens mit der EU und wird von den Hardlinern das eine oder andere Mal als Faustpfand für die Verhandlungen genannt – im Scherz, aber mit einem Körnchen Wahrheit.
Zugegebenermaßen wollen die anderen Parteien die SVP nicht wirklich dabei haben, weil gerade die Schweizerische Volkspartei so „unschweizerisch“polarisierend ist. Sie missachtet den auf Ausgleich ausgerichteten Politikstil, die „Konkordanz“.
Kurz vor den Wahlen haben SVPPolitiker aus der zweiten Reihe offen mit „Totalopposition“gedroht. Sie würden sogar den einen Bundesrat Ueli Maurer abziehen, wenn sie nicht den ihnen aus ihrer Sicht zustehenden zweiten Bundesrat erhielten und dann reine Opposition machen könnten. Faktisch tut die SVP das zwar schon, aber das war dann selbst der Parteiführung zu „unschweizerisch“. Das Thema wurde offiziell zurückgezogen. Die SVP ist ein bisschen wie die CSU: Mir san mir, Bayern kommt zuerst, Laptop und Lederhosen. In München mag das gehen, in Berlin ist das nicht wirklich zu gebrauchen. In Bern eben auch nicht. Ärzte ja, Asylanten nein. Globalisierung ja, Einwanderung nein! Fachkräfte ja, Verkehrsstau nein! Das ist schizophren. Sicher könnte ein unabhängiges Land wie die Schweiz sich abschotten, aber nur um den Preis enormer Wachstumseinbußen. Das sagt die SVP dem Volk nicht. Man will die Vorteile haben, aber bitte kaum Nachteile.
Dummerweise sind die anderen Parteien zu schweizerisch und führen keinen Wahlkampf gegen diese Schizophrenie. Man könnte sagen, sie sind der SVP alle auf den Leim gegangen. Die FDP, die ehemalige Freisinnige „Staatspartei“, laviert zwi- schen Liberalismus und Populismus. Letzteres kann die SVP besser. Die sozialdemokratische SP hält zwar gegen die SVP, wird aber von der SVP als wirtschaftsfeindlich abgekanzelt. Dazwischen tummeln sich die Christliche Volkspartei (CVP), Grüne, Grünliberale und die BDP, eine bürgerliche und eben ausgleichende Abspaltung von der SVP.
Profiteur der EU
Sie alle wagen nicht den offenen Kampf der Argumente, weil sie Angst haben, von der SVP als Verräter des Volkswillens abgestempelt zu werden. Wenn man das also nicht im Wahlkampf klären kann, sollte man die SVP in die Pflicht nehmen. Die von ihr lancierte und in einer Volksabstimmung hauchdünn angenommene Initiative gegen die Masseneinwanderung passt nämlich nicht mit den für die Schweiz vorteilhaften bilateralen Verträgen mit der EU zusammen, vor allem nicht mit der Personenfreizügigkeit. Salopp formuliert hat die EU der Schweiz alle Vorzüge eingeräumt, ohne Mitglied zu sein. Selbstverständlich zahlt die Schweiz in die verschiedenen Programme ein, aber sie profitiert mehr als sie gibt.
Natürlich spielt den „wahren Eidgenossen“, wie man sich im Unterschied zu eingebürgerten Schweizern gerne abgrenzt, noch etwas anderes in die Karten: Die EU ist in ih- rer aktuellen Verfassung nicht gerade als Vorbild einer Gemeinschaft zu bezeichnen. Der Streit um Flüchtlingsquoten und Griechenhilfen wird auch in der Alpenrepublik genau beobachtet. Aber es geht ja auch bei keinem noch so weltoffenen Schweizer darum, dass man der EU beitreten sollte. Es geht vielmehr um eine unabhängige Schweizer Realpolitik, in der die bilateralen Verträge das Beste sind, was man als NichtMitglied haben kann. Wer das zur Disposition stellt, spielt mit dem Wohlstand der Schweiz. Es geht der sehr wettbewerbsfähigen Schweiz nach wie vor sehr gut. Trotz Frankenstärke und damit verbundenen Härten im Export und im Tourismus wird die Schweiz auch 2015 noch weiter wachsen.
Nichts ist mehr normal
Normalerweise ging man in der Schweiz zur Wahl und alles blieb danach beim Alten. Bundesräte blieben meist im Amt, solange sie es wollten. Im Grunde ist das eine gute Sache, weil die Konkordanz alle politischen Kräfte in die Pflicht nimmt. Das sorgt bei allen Unterschieden für den eidgenössischen Schulterschluss. Aber seit die SVP seit Anfang 2000 in Bern so richtig mitmischt, ist nichts mehr normal. Die junge Ruth Metzler (CVP) wurde 2003 abgewählt, der alte Christoph Blocher kam in den Bundesrat. Weil er sich nicht an die Gepflogenheiten des Ausgleichs hielt, wurde er 2007 wieder abgewählt und durch seine moderatere Kollegin Evelin Widmer-Schlumpf ersetzt, die sodann die bürgerliche BDB mit gründete. Auf Finanzministerin Widmer-Schlumpf hat es die SVP nun abgesehen.
Wer immer für einen zweiten Bundesrat der SVP aus dem bisherigen Gremium rausfällt oder zuvor zurücktritt, ist das eine. Das andere ist, dass die Verteilung der SVP genau das Ressort zuteilt, das die Verhandlungen mit der EU führen muss. Dann trifft Anspruch auf Wirklichkeit. Es käme zu einer ganz neuen Variante des Rütli-Schwurs, der die Freiheit gegen fremde Mächte verteidigt. Ob die SVP ihrem Bundesrat die Freiheit zum Kompromiss erlaubt, ist offen. Aber am Ende entscheidet eh das Schweizer Volk – im Zweifel gegen die sich so unschweizerisch gerierende Volkspartei. Markus A. Will wurde 1963 in Oberhausen geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte Wirtschaftswissenschaften, promovierte in der Volkswirtschaftslehre und habilitierte in Betriebswirtschaftslehre. Seit 1998 lebt Markus A. Will in der Schweiz und ist tätig als Journalist, Berater, Dozent und als Autor für Thriller aus der Wirtschaftswelt.