54 Minuten Leben
In einer Kölner Klinik stirbt 2007 ein Frühchen – Ärzte und Hebammen hätten sein Leben eigenmächtig genommen, klagt die Mutter
LINDAU - Charlottes kurzes Leben dauerte eine knappe Stunde von 3.43 Uhr bis 4.37. Nach 54 Minuten gab das kleine Mädchen, das als Frühchen in der 23. Schwangerschaftswoche auf die Welt gekommen war, den Kampf um sein Dasein auf. Die Ärzte und die Hebamme in der Klinik Köln-Holweide hatten das Kind von vornherein aufgegeben und unternahmen nichts zu seiner Rettung. Eine knappe Stunde, in der Charlottes Eltern weiterhin vergebens um Hilfe baten. 2007 war dies, doch noch immer beschäftigen sich die Richter mit dem Vorfall. Dabei drängt sich vor allem eine Frage auf: Ist es Zufall, ob ein Frühchen leben darf oder nicht?
460 Gramm war Charlotte leicht, gerade einmal 28 Zentimeter klein. Zwei Hände voll Leben, das in diesem Moment behütet und umsorgt gehört hätte, auch wenn mit dem Kind natürlich die Sorgen bereits mit geboren wurden. Wird es überleben, hat es bleibende Schäden, möglicherweise sogar eine schwere Behinderung? „Für mich stand außer Frage, dass ich meine Tochter lieben würde, auch wenn sie behindert ist“, sagt Charlottes Mutter Melanie Lang mehr als acht Jahre nach jenem 13. Juli 2007 im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Aus ihrer Sicht haben die Ärzte der Klinik Holweide und ihre damalige Hebamme ihr diese Möglichkeit genommen und eigenmächtig Charlottes Leben beendet.
„Keine Überlebenschance“
„Niemand auf der Geburtsstation hat unser Kind abgenabelt, ihr die Luftröhre frei gesaugt“, sagt Lang. Die Hebamme legte das Kind der Mutter auf den Bauch und forderte sie auf, Abschied von ihrer Tochter zu nehmen. Sie versuchte das zarte Leben zu wärmen. Vergebens schnappte Charlotte nach Luft, nach einer Stunde starb das Mädchen, das so gerne gelebt hätte und das geliebt worden wäre. Begründung für die nicht geleistete Hilfe: Das Kind war nach 22Wochen und vier Tagen Schwangerschaft zur Welt gekommen, habe keine Überlebenschance gehabt. In Holweide werden Kinder erst nach der vollendeten 23. Schwangerschaftswoche behandelt.
Seitens der Klinik Holweide gibt es keine Stellungnahme zu dem Fall. Pressesprecherin Monika Funken begründet dies auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“damit, dass „es sich um ein laufendes Verfahren handelt“.
Stellt sich die Frage, ob Charlotte heute herumtollen, spielen, kuscheln - leben - würde, wenn sie ein paar Kilometer entfernt im Universitätsklinikum Köln zur Welt gekommen wäre. Im Zuge eines endlosen Rechtsund Gutachterstreits drängt sich dieser Schluss auf. Da ist zunächst das Gutachten von Frank Pohlandt. Der Ulmer war lange Jahre Leiter der Sektion Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin an der Uni-Klinik Ulm. Er ist überzeugt, Charlotte hätte eine reelle Chance gehabt. Er verweist unter anderem auf eine Studie der Universitätskliniken Köln, Großhadern und Ulm in den Jahren 1999 bis 2003. „30 Prozent beträgt die Überlebenschance der Frühchen mit einem Schwangerschaftsalter von 22Wochen“, bestätigt Pohlandt. Voraussetzung: Sie müssten eine entsprechende Behandlung bekommen. Für den konkreten Fall gilt aus seiner Sicht: „Bei einer kurativen Behandlung entsprechend dem medizinischen Standard bestand eine realistische Wahrscheinlichkeit von etwa 30 Prozent, dass das Kind überlebt hätte.“
Klare Position im Gutachten
„Das Kind von Frau Lang war grundsätzlich überlebensfähig. Umstände, welche die Überlebensfähigkeit dieses Kindes besonders eingeschränkt hätten, sind in den Unterlagen nicht erkennbar. Ein Behandlungsversuch war grundsätzlich geboten. Es wurde fehlerhaft und nicht nachvollziehbar unterlassen, lebensrettende Maß- nahmen zu ergreifen“, bezieht er in seinem Gutachten klar Position.
„Zu dieser Behandlung wäre die Klinik als Geburtshilfezentrum der ersten Stufe ohne Weiteres in der Lage gewesen“, sagt Silke Wenk. Die Lindauer Rechtsanwältin vertritt Melanie Lang mittlerweile. Ihre Begründung: Andere Geburtshilfezentren der ersten Stufe behandelten im damaligen Zeitraum Frühgeborene vor Vollendung der 23. Schwangerschaftswoche mit Erfolg, so beispielsweise die gerade einmal ungefähr zehn Kilometer von der Klinik Holweide entfernte UniversitätsFrauenklinik Köln.
Pikant: Das Krankenhaus Holweide ist Lehrkrankenhaus der Uniklinik Köln. „Das heißt, diese Möglichkeit musste den Verantwortlichen genau bekannt gewesen sein“, sagt Wenk. Doch den Eltern, die nach eigener Aussage während des gesam- ten Klinikaufenthaltes immer wieder betont hatten, dass sie das Kind haben wollen und um Hilfe geradezu gebettelt haben, hatten dies weder der Hebamme noch einer der Ärzte gesagt. Ein Neonatologe ist nicht einmal hinzugezogen worden. Melanie Lang hätte sich sofort in die Uniklinik Köln verlegen lassen, hätte sie gewusst, dass ihre kleine Tochter dort medizinisch versorgt worden wäre.
Dazu kommt eine Reihe von Ungereimtheiten. So war der Körper des Mädchens mit Blutergüssen übersät, die darauf schließen lassen, dass die von der Hebamme zunächst allein durchgeführte Geburt alles andere als fachgerecht war. „Mir wurde ein Cocktail aus Betäubungsmitteln verabreicht“, erinnert sich Lang. So reiht sich Detail an Detail, alles akribisch festgehalten, von Gutachtern und Gegengutachtern bewertet. In Lang hat sich längst die Überzeu- gung gefestigt, dass Charlotte nicht überleben durfte. Doch Glauben fand sie mit ihrem Verdacht bislang vor Gericht nicht.
Deshalb hat sie einen wahren Gerichtsmarathon hinter sich. Zunächst hatte sie die behandelnden Ärzte und die Hebamme wegen Totschlags angezeigt, doch die Staatsanwaltschaft Köln hat das Verfahren eingestellt, mittlerweile läuft dagegen eine Verfassungsbeschwerde.
„Bin kein Einzelfall“
Auch auf zivilrechtlichem Weg kämpft Lang, die ihre Hartnäckigkeit mit ihrer Anwältin eint, um ihr Recht. Derzeit wartet sie auf die Fortsetzung des Prozesses in Köln. Weniger, weil es ihr um ein Schmerzensgeld im vierstelligen Bereich geht, sondern weil sie nicht akzeptieren kann, dass das Lebensrecht eines Kindes davon abhängig sein soll, in welcher Klinik es zufällig entbunden wird. „Ich bin kein Einzelfall. Das habe ich in den vergangenen Jahren festgestellt, aber viele Frauen trauen sich nicht, an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt sie.
Da sei der Druck, den Ärzte auf die Frauen ausüben, Rechtsanwälte, die von vornherein sagen würden, es gebe keine Chance vor Gericht und auch die Scham. Das Gefühl, man habe als Mutter sein ungeborenes Kind nicht ausreichend beschützen können.
Nun hat sie wertvolle Schützenhilfe bekommen. Es ist ein Gutachten von Markus M. Valter, dem Leitenden Oberarzt der Geburtshilfe an der Uniklinik Köln. Er bestätigt in seinem Gutachten, dass Charlotte in der Uniklinik behandelt und wohl auch schonend durch einen Kaiserschnitt entbunden worden wäre. Immer vorausgesetzt, dass die Eltern dies gewollt hätten und im konkreten Fall auch eine medizinische Erfolgsaussicht bestanden hätte.
Bei einem „gewissen kindlichen Überlebenstrieb“hätte man in dieser frühen Schwangerschaftswoche zunächst versucht, eine Auskühlung des Kindes zu verhindern. Den Überlebenstrieb hat die kleine Charlotte deutlich gezeigt. Sie wäre dann in einen Brutkasten gebettet worden. Dort herrschen ungefähr 36 Grad Wärme und eine Luftfeuchtigkeit von 60 Prozent. Charlotte hatte nichts als die Wärme ihrer Mutter.